„Weiße Wände, nahezu leuchtend. Ich betastete meinen Bauch. Aus der Ferne drangen Stimmen zu mir. Ein Laken, das fest um mich gespannt war, hielt mich in dem Bett gefangen. Mein Kopf war unnatürlich schwer. Wo ist mein Kind?, fragte ich mit heiserer Stimme.“ (S. 260)
Es war Anfang März 1963, als sie sich kennenlernten; die Waal war von einer dicken Eisschicht überzogen. Nie wird die junge Floristin Frieda den Moment vergessen, als er plötzlich vor ihr stand, mehr Mantel als Mann: Otto. Noch Tage, Wochen nach ihrer Begegnung denkt sie an ihn, Ot-to, Ot-to skandiert sie in Gedanken, schilt sich, ihm nicht einmal ihren Namen genannt zu haben – wie soll er sie so jemals wiederfinden? –, doch da steht er eines Tages plötzlich vor ihr im Blumenladen, ihr Otto – und eben auch nicht, denn er ist verheiratet. Dennoch lassen sie einander nicht mehr los, begehren einander stürmisch, Mund und Wangen rot vor Liebe. Ihre Veränderung ist vor den Eltern nicht unbemerkt geblieben; Frieda merkt, wie sich das Band ihres streng katholischen Elternhauses immer enger um sie schlingt, zu ersticken droht. Dann bleibt ihre Periode aus. Tausende Fragen und keine Antworten, nur Einsamkeit und Angst, die wie ein Stein auf ihrer Brust liegen. Denn eine uneheliche Schwangerschaft, das war ein Skandal. Ihre Eltern verweisen sie des Hauses, versagen ihr jegliche Liebe und Fürsorge, versagen ihr, noch länger Teil der Familie zu sein. Aber auch ihrem heimlichen Kind würde sie nie Mutter, nie Familie sein.
„Ich hatte das große Bedürfnis, alles zu erzählen, wusste aber nicht, wem.“ (S. 85)
Niemals wird sie den Anblick der kleinen Füßchen vergessen, die Stille. Umso mehr schmerzt es, dass nun, sechzig Jahre später, seine Füße das letzte waren, was sie von ihrem Ehemann gesehen hat. All die stille Traurigkeit, die sie ihr Leben lang in sich trug, tritt wieder zu Tage, hallt umso lauter wider zwischen den Wänden des Zimmers der Seniorenresidenz, in der sie nun wohnt. Frieda ist inzwischen einundachtzig Jahre alt, das Laufen fällt ihr schwer, aber die Erinnerung an den Schmerz und die Ungewissheit, die der Anblick der stillen Füße in ihr wachgerufen hat, bringt sie dazu, sich ihre Geschichte zu stellen und sie zu teilen.
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Manchmal kann man nichts dagegen tun, es übermannt einen einfach. Mein Herz ist gebrochen und gleichzeitig seltsam ruhig. Tränen tanzen auf den Wimpern, der Nasenspitze, tropfen auf die Seiten, auf die "Kontur eines Lebens", die niemals ausgefüllt werden durfte, immer nur als blinder Schemen dessen, was hätte sein können, gegen die Brust pocht. Über diese stille Traurigkeit, den Verlust eines möglichen Lebens, das geheim gehalten werden musste, bedeutete eine Schwangerschaft ohne den heiligen Bund der Ehe für viele Frauen Mitte des 20. Jahrhunderts (und ganz sicher auch davor - und jetzt noch) den Ausschluss aus der (gläubigen) Gesellschaft, erzählt Jaap Robben in seinem Roman, der von Birgit Erdmann aus dem Niederländischen übertragen wurde. Zärtlich und gefühlvoll skizziert er das Leben der Protagonistin Frieda in ihrer Adoleszenz in den 60er Jahren und gegenwärtig als alte, hilfsbedürftige Dame, arbeitet die für die jeweilige Zeit und das Alter entsprechenden Charakterzüge, Eigenheiten - und Traumata - sensibel heraus, und lässt sie zu jeder Zeit so nahbar und echt erscheinen. Umso stärker traf mich ihr Schicksal: wie die Gesellschaft und ihre Eltern mit ihr umgingen, und was sie erleiden musste - während der Schwangerschaft, unter der Geburt und danach. Leer und einsam, abgeschnitten. Währenddessen kam Otto ungescholten davon, obgleich er: A) seine Ehefrau betrog, B) ein uneheliches Kind zeugte, C) sogar noch sagte, er habe genug Liebe für sie beide, wo sei da das Problem. Seriously? Aber leider nichts Neues, damals wie heute. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es all den Frauen ihr Lebtag ergangen sein mag, die sie all die Jahre dieses unaussprechliche Packerl mit sich tragen, die Bilder vor Augen, der Schatten einer Berührung auf der Haut. Und dennoch ein "normales Leben" weiterführen mussten.
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Ich habe wahrlich nur warme Worte für diese große, intensive Geschichte, die kritische Betrachtung einer Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Von Beginn an hat mich die Erzählung von Friedas Leben in den Bann gezogen, diese kluge und stringente Komposition aus den jeweiligen Zeitsträngen mein Herz erwärmt. Einzig Tobias, der Sohn Friedas, ging mir zeitweise auf den Geist mit seiner teils herabwürdigen Art. Geschenkt. Nein, ich bin selig. Und zerstört. Ein unbedingtes Jahreshighlight!