Der britische Reverend Charles Morrison ist 1851 mit Frau Marion, der 17-jährigen Tochter Ellie und seiner Schwester Charlotte unterwegs auf einer Reise per Schaufelraddampfer auf dem Rhein. Die „leidende“ Marion soll zu dieser Gelegenheit zu einem Kuraufenthalt abgeliefert werden. Die Beziehungen innerhalb des Grüppchens wirken gespannt, weil einerseits die heiratsfähige Ellie unbedingt vom unziemlichen Kontakt zu jungen Männern ferngehalten werden soll und noch ungeklärt ist, ob die circa 40-jährige Charlotte ihr restliches Leben als alte Jungfer/unverheiratete Tante im Haushalt ihres Bruders verbringen wird. Außerdem tritt Charles als unerträglich pharisäerhafter Typ auf, der jede Kultur und jede Religion außer seiner eigenen zu finsterem Aberglauben erklärt. Den Kölner Dom wird er jedenfalls nicht besuchen. Als Charlotte meint, zwischen Kutschfahrten, Eselsritten und Flusspassagen jenen Desmond Fermer zu erblicken, dessen Heiratsantrag sie vor 20 Jahren unter Charles Zwang ablehnen musste, brechen alte Konflikte zwischen den drei Erwachsenen wieder auf. Dass der mittelalte Herr Newman nicht der inzwischen 60-jährige Fermer sein kann, ist Charlotte jedoch völlig klar. Als Leser zweifelt man zugleich an der Lebenstüchtigkeit von Bruder und Schwester, die damals offenbar verdrängten, dass ein Mühlenbesitzer von einer Ehefrau Mitgift und Mitarbeit erwarten wird, die einer noch jungen Pfarrhaushälterin (bei einem älteren Kollegen von Charles) eher nicht zuzutrauen waren. Charlotte wird heute noch wie ein Dienstmädchen behandelt und auch der Ton der Eltern gegenüber Ellie wirkt alles andere als christlich.
Fazit
Vor der Kulisse eines paranoiden Preußen kurz nach den Ereignissen von 1848, so Lauren Groff in ihrem informativen Nachwort, entwickelt Ann Schlee ein scharfsinniges, präzise beobachtetes Sittengemälde einer Zeit, in der unverheiratete Frauen praktisch zu Leibeigenen eines männlichen Verwandten erklärt wurden. Kein Wunder, dass unter diesen Umständen Marion wie Charlotte so verwirrt wie manipulativ wirken, so dass man stets damit rechnen muss, in ihre Alpträume entführt zu werden. Die Folgen einer Begegnung mit einer Deutschland-erfahrenen britischen Familie mit halbwüchsigen Söhnen blättert schließlich eine Überraschung auf, die die Ereignisse in völlig anderem Licht erscheinen lässt.
Auf nur 240 Seiten entfaltet Ann Schlee ein bemerkenswertes Psychogramm der Familie Morrison, das mir durch die Kürze des Textes, den historischen Hintergrund und die Charakterisierung der exzentrischen Figuren als Lektüre in einem Lesekreis Vergnügen bereiten würde.