»Perlen« von Siân Hughes ist ein Roman, der durch seine feine, poetische und dennoch klare Sprache besticht. Hier wird von großer Trauer erzählt, nachdem Marianne im Alter von acht Jahren ihre Mutter verliert, aber auch davon, wie es ist, nach so einem Trauma erwachsen zu werden. Dabei bleibt die Erzählung vollkommen unprätentiös und schafft in all der Trauer einen Ort des Trostes.
Mit ihren über 20 Jahren Übersetzungserfahrung hat Tanja Handels sich der besonderen Geschichte in »Perlen« angenommen. Seit 2003 übersetzt sie literarische Texte aus dem Englischen ins Deutsche und hat für ihrer Arbeit bereits diverse Preise erhalten. Sie lebt und arbeitet in München. Für uns hat sie sich dankenswerterweise die Zeit für ein Interview genommen:
Liebe Tanja, kürzlich ist der Roman »Perlen«, von dir übersetzt, erschienen. Was zeichnet diese Geschichte für Dich aus? Was hat Dich an diesem Buch besonders angesprochen?
Als ich das Projekt Ende 2023 angeboten bekam, war ich von der ersten Seite an total gefesselt und konnte es buchstäblich nicht mehr weglegen. Es ist ein stilles, scheinbar zurückhaltendes, dabei aber ganz besonderes Buch, ein Coming-of-Age-Roman und zugleich eine Art Meditation über Trauer und Verlust, über Kindheitstraumata, das Erwachsenwerden und die Widerstände auf der Suche nach dem eigenen Weg in dieser Welt. Die Stimme der Ich-Erzählerin Marianne, die so verletzt und beschädigt ist, aber trotzdem ungeheuer stark, klug und witzig, so ganz nah und ganz sie selbst, hatte ich sofort auch auf Deutsch im Ohr - es ist immer ein gutes Zeichen, wenn ich ein Buch schon beim ersten Lesen "höre". »Perlen« ist auf zarte und zugleich ungemein kraftvolle Weise poetisch, voller eindrücklicher Bilder - ein funkelndes, kleines Juwel von einem Buch, das ich mir schlichtweg nicht entgehen lassen konnte.
Gibt es denn Lieblingsstellen oder -passagen, die ganz besonderen Eindruck bei Dir hinterlassen haben?
Ich liebe das ganze Buch, aber Kapitel 15, "Anhängerin einer Naturreligion", nimmt mit der Sonnwendfeier bei dem alternativ-hippiehaften, zugleich aber merklich vermögenden Künstlerpaar, das Marianne kurzfristig unter seine Fittiche nimmt, diese esoterisch angehauchte Bohéme, die eigentlich gar keine ist, so wunderbar liebevoll-ironisch aufs Korn, das gefällt mir ganz besonders. Aber es gibt auch viele andere Stellen, die mir noch lange bleiben werden: wie die kleine Marianne sich nach dem Verschwinden ihrer Mutter auf der Schultoilette die Perlen vom Pulliärmel knabbert und sie schluckt, wie sie mit ihrer Mutter das politisch durchaus unkorrekte Lied von den "raggle-taggle gypsies" nachspielt, wie sie später bei den echten Travellers ihren Hund findet, wie sie mit ihrer Freundin eine Séance in ihrem Kindheitshaus abhält und und und. Das ganze Buch ist eine echte Fundgrube solcher wunderbarer, oft tieftrauriger, aber manchmal auch urkomischer Szenen, die lange nachhallen.
Und gab es Herausforderungen beim Übersetzen von »Perlen«? Stellen, mit denen Du vielleicht besonders gerungen hast?
Die größte Herausforderung bestand tatsächlich darin, die Gleichzeitigkeit aus sprachlicher Kargheit und poetischer Kraft des Originals auch auf Deutsch hinzubekommen. Das Englische kann aufgrund seiner Sprachkonventionen viel mehr verknappen und hat eine natürliche Neigung zur Lakonie, die das Deutsche beziehungsweise die Übersetzerin ins Deutsche sich erstmal mühevoll erarbeiten muss. Es hat mich einige Überarbeitungsgänge gekostet, bis ich damit wirklich zufrieden war.
Eine ganz andere Herausforderung waren die Verse und Abzählreime, die jedes Kapitel eröffnen und auch inhaltlich mit ihm korrespondieren. Da haben die Lektorin und ich lange hin und her überlegt, wie wir damit umgehen sollen. Die englischen Verse sind allesamt authentisch, es gibt sie, und ein englisches Publikum erkennt die allermeisten sofort. Ich habe zahllose deutsche Abzählreime durchgesehen und versucht, Entsprechungen zu finden, was aber in den meisten Fällen nicht gelungen ist. Dann habe ich eigene Übersetzungen der englischen Verse angefertigt, aber damit war der Wiederekennungseffekt natürlich auf allen Ebenen völlig dahin. Und so haben wir uns schließlich dafür entschieden, die Verse im englischen Original zu belassen - Texte bekannter Volkslieder oder Popsongs übersetzt man ja auch nur in den allerseltensten Fällen, und das Atmosphärisch-Wahrhaftige war uns da letztlich wichtiger. Aber bei mir liegen jetzt so einige nagelneue deutsche Abzähl- und andere Verse auf Halde... :)
Kannst Du uns mit in deinen Arbeitsprozess nehmen? Wie findest Du dich in Stimmung und Sprache eines neuen Projekts ein?
Um mich in ein neues Projekt einzufinden, ist für mich das Wichtigste, dass ich das Buch erst einmal als Leserin und noch nicht - oder zumindest nicht nur - mit dem Arbeitsblick der Übersetzerin lese: Der lässt sich natürlich nicht komplett ausschalten, aber bei der ersten Lektüre versuche ich trotzdem immer, mich so auf das Buch einzulassen, als würde ich es einfach nur lesen. Ich lasse den Text auf mich wirken, erfasse die Stimmung und den Ton, die Figuren, eben das Buch als Ganzes, mit allen Sinnen und präge es mir sozusagen körperlich ein. Dieser erste Leseeindruck fließt, glaube ich, sehr stark in alle meine Übersetzungen ein und ist für mich bei der Arbeit unerlässlich. Die Zeit dafür nehme ich mir deshalb immer, auch wenn es mit einem Projekt mal sehr schnell gehen muss.
Und wie hälst du die Balance zwischen Genauigkeit und Lesefluss? Wie viel Freiheit erlaubst Du dir beim Übersetzen, auch beispielsweise bei Metaphern und idiomatischen Ausdrücken?
Genauigkeit und Lesefluss schließen sich keineswegs aus: Englisch und Deutsch sind ja zwei ganz unterschiedliche Sprachen, die grammatikalisch und vor allem syntaktisch sehr verschieden sind, auch wenn man das gerade bei dieser Sprachkombination heute häufig übersieht - nicht zuletzt befördert durch schlechte, seelenlose KI-Übersetzungen. Es geht also nie darum, Wort für Wort zu übersetzen, damit der Satz hinterher genauso aussieht wie der englische, auf Deutsch aber fürchterlich holpert, sondern darum, den englischen Text als Ganzes so zu übertragen, dass er im Idealfall auf Deutsch genauso wirkt und fließt wie das Original - aber eben mit den Mitteln, die mir das Deutsche zur Verfügung stellt. Und das sind, allen alltäglich gewordenen Anglizismen zum Trotz, tatsächlich nur in den seltensten Fällen dieselben wie im Englischen.
Bei Metaphern und idiomatischen Ausdrücken lautet meine erste Frage immer: Ist das eine Redewendung, die fest in der Sprache verankert ist, oder macht meine Autorin hier bewusst etwas anders, ist es also ein Ausdruck, ein Bild, die oder das nur sie verwendet? Im ersten Fall entscheide ich mich dann für eine deutsche Redewendung, die der englischen von der Wirkung her entspricht, im zweiten übertrage ich das Bild gegebenenfalls wörtlicher und direkter. Und dann gibt es ja immer auch noch die Frage zu klären: Welche Figur, welche Stimme im Kosmos meines Buches sagt das gerade, und wie wird weiter mit dem Bild gearbeitet? Muss ich vielleicht eine ganze Passage umschreiben, damit es auf Deutsch funktioniert? Übersetzen ist nun mal eine höchst anspruchsvolle, diffizile und kleinteilige Angelegenheit!
Du bist jetzt bereits seit mehr als 20 Jahren als Übersetzerin tätig. Wie bist Du zum Übersetzen gekommen? Gab es ein bestimmtes Buch oder eine*n bestimmte*n Autor*in, der bzw. die den Ausschlag gegeben hat?
Mein allererstes Projekt ist mir richtig in den Schoß gefallen und war im eigentlichen Sinn kein literarisches: Es ging darum, für den Ausstellungskatalog zu einer großen Retrospektive des amerikanischen Künstlers Robert Rauschenberg dessen sehr ausführliche Lebens- und Werkschronologie zu übersetzen. In dem Moment eigentlich nur ein Nebenjob, eine Gefälligkeit für Bekannte, die mir nebenbei noch ein bisschen Geld einbrachte. Aber dabei habe ich festgestellt, dass mir diese Tätigkeit richtig Spaß macht. Das war also ein bisschen die Initialzündung. Es hat dann noch ein paar Jahre gedauert, bis ich mich wirklich in die Selbstständigkeit gewagt habe, und lange Jahre habe ich - der Klassiker der Englischübersetzerin - vor allem Krimis übersetzt, obwohl ich eigentlich nie eine große Krimileserin war. Aber die Arbeit hat mir weiterhin unglaublich viel Freude gemacht und mich sehr bereichert, und daran hat sich auch nach inzwischen 20 Jahren nichts geändert.
Was ist das Besondere an Deiner Arbeit? Was liebst Du am meisten daran?
Abgesehen davon, dass mir die Freiberuflichkeit, bei allen Herausforderungen, vor die sie einen gerade in letzter Zeit stellt, als Arbeitsform sehr gut entspricht und ich es toll finde, immer wieder neue Projekte zu haben, ist es für mich einfach das größte Geschenk, jeden Tag mit dem arbeiten zu dürfen, was ich von klein auf am allermeisten liebe: Sprache und Geschichten!
Und welches Projekt war in all den Jahren dein liebstes?
Schwierige Frage - eigentlich ist das Lieblingsprojekt nämlich wirklich immer das, an dem ich gerade sitze! Aber es gibt tatsächlich ein Buch, das einen besonderen Platz in meinem Herzen hat, weil es so ganz anders war als meine sonstigen Projekte und mich in eine völlig neue Welt geführt hat: »Barbarentage« von William Finnegan, ein angesehener, amerikanischerer Journalist und Kriegsreporter, der darin sein "anderes" Leben als passionierter Surfer erzählt. Das war toll und sehr speziell, mich in dieses Surfer-Universum hineinzubegeben.
Jetzt interessiert mich aber auch: Gibt es denn ein Buch, das Du gerne selbst übersetzt hättest?
»What I Loved« von Siri Hustvedt. Und »On Beauty« von Zadie Smith, das fiel nämlich noch in die Zeit, bevor ich ihre Übersetzerin wurde.
Zuletzt interessiert mich noch, welchche Bücher Du privat gerne liest - eher in Originalsprache oder auf Deutsch? Und welches Buch hat Dich zuletzt richtig begeistert?
Englische Bücher lese ich meist im Original, aber oft interessiert mich auch, was die Kolleg:innen gemacht haben, und ich greife doch zur Übersetzung. Und: Ich lese immer auch Übersetzungen aus anderen Sprachen und möglichst viele deutsche Originale - das ist mir sehr wichtig, um mein Sprach- und Stilgefühl im Deutschen wach, lebendig und beweglich zu halten.
Im Moment lese ich gerade »Bitternis« von Joanna Bator, absolut großartig von Lisa Palmes aus dem Polnischen übersetzt: ein Familienepos, das sich über vier Generationen auf die Frauen dieser Familie konzentriert und vor allem von ihren Mühseligkeiten im Leben, ihrem Scheitern erzählt - das aber in einer so gewaltigen, mitreißenden Sprache, dass die Lektüre dann doch wieder eine echte Freude ist. Und dann habe ich kürzlich den Debütroman der Schauspielerin Caroline Peters gelesen, »Ein anderes Leben«, und war richtig begeistert von diesem Mutter-Töchter-Roman und seiner schmissigen, authentischen, witzigen und zugleich ungeheuer anrührenden Erzählstimme. Beides großartige Leseempfehlungen!
Herzlichen Dank, liebe Tanja!
(Das Interview führte Christin Köhler.)