Unsere Autorin Hala Alyan (»Häuser aus Sand«) im Interview

19.06.2018
Unsere Autorin Hala Alyan (»Häuser aus Sand«) im Interview

Am 18. Juni erschien Hala Alyans eindrucksvolles Romandebüt, »Häuser aus Sand«, nun auch auf Deutsch. Darin entwirft die palästinensisch-amerikanische Autorin eine Familiengeschichte über den Drang nach Veränderung und die tiefe Sehnsucht nach einem Zuhause. Im Gespräch mit unserer Kollegin Vanessa Briese verriet sie mehr über die Hintergründe.

In der deutschen Übersetzung trägt Ihr Roman einen anderen Titel als im Original. Worauf spielt der Originaltitel ›Salt Houses‹ an?

Der Titel nimmt Bezug auf eine Szene im Roman, in der eine der alternden Figuren über die verschiedenen Häuser nachdenkt, in denen sie über die Jahre gelebt hat. Die Person stellt sie sich als Strukturen aus Salz vor, leicht aufzulösen. Der Titel ›Salt Houses‹ ist so eine Metapher für die Vertreibung und dafür, wie leicht die »Gezeiten« Leben umstrukturieren oder nehmen können.

Sie sind Dichterin und haben vor allem Lyrik verfasst, bevor Sie letztlich einen Roman geschrieben haben. Warum haben Sie diese Form gewählt, um über die palästinensische Geschichte zu schreiben?

Ich habe immer mit beiden Gattungen parallel gearbeitet, aber als ich die Idee hatte, die Geschichte einer einzelnen palästinensischen Familie zu erzählen – natürlich von meiner eigenen Familie inspiriert, jedoch auch durch die Leben meiner Psychotherapie-Patienten, von denen viele Migranten sind –, schien mir die Form des Gedichts nicht ausreichend. Ich wollte eine generationenübergreifende Geschichte erzählen, die eine gewisse Zeit und einen gewissen Raum umspannt. Ein Gedicht passt nicht zu dieser Art von Narration. Der Roman bot mir die Freiheit, die Geschichte der palästinensischen Diaspora und dieser speziellen Familie wirklich zu entfalten.

Worin lag für Sie der Reiz, die Geschichte einer Familie aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen, von einem jungen Erwachsenen bis hin zu einer alten Frau?

Das war das Schönste an diesem Projekt! Ich fand, dass die generationenübergreifende, multiperspektivische Annäherung wirklich gut für diese Art der Geschichte unktioniert, weil ich das generationenübergreifende Trauma und das vererbte kollektive Gedächtnis, das sich in der Diaspora entwickelt, herausstellen wollte. Außerdem hatte ich großen Spaß daran, verschiedene Blickwinkel auszuprobieren, in all die verschiedenen Persönlichkeiten zu schlüpfen, die innerhalb ein und derselben Familie zusammenkommen – die Menschen unterscheiden sich, was Religiosität, Alter, Modernität und den Grad der Verwestlichung angeht. Es war spannend, mir auszumalen, wie es gewesen wäre, eine Jugendliche in den Siebzigern zu sein, eine Braut in den Sechzigern oder auch, wie es sich anfühlen könnte, ein Großvater zu sein, der sich von seiner Frau verabschiedet.

Viele Menschen verlassen ihre Heimat, wenn sie von der Schule abgehen und mit einer Ausbildung beginnen oder studieren, und kehren nie zurück. Was unterscheidet sie von den Menschen, die ihre Heimat aufgrund äußerer Umständen verlassen müssen und sich gezwungen sehen, woanders hinzugehen? Inwiefern unterscheiden sich ihre Vorstellungen oder ihr Bild von ›Heimat‹?

Ich denke, es stellt sich immer eine Form von Heimweh ein, wenn man jegliche Art von ›Zuhause‹ hinter sich lässt, unabhängig von den Beweggründen. Aber wenn Menschen gezwungen werden ihre Heimat zu verlassen, durchleiden sie ziemlich starke Traumata und oft auch Gewalt. Beides beeinflusst das Gedächtnis und die emotionale Verarbeitung des Ganzen.

In diesem Fall verändert sich der Begriff von Heimat, weil die Betroffenen nicht zurückkehren können. Ein großer Teil meiner klinischen Untersuchungen beschäftigt sich damit, wie Vertreibung und Trauma unser Verständnis von ›Heimat‹ im Laufe des Lebens beeinflussen, und oftmals führen diese Erfahrungen zu nachhaltiger Nostalgie.

Es sind die kleinen Momente des Heimwehs und der Nostalgie, in denen die Figuren in Ihrem Buch am traurigsten sind. Es gibt Studien, die besagen, dass ein Trauma, das etwa durch Vertreibung ausgelöst wird, generationenübergreifend ist. Es wird vererbt. In ›Häuser aus Sand‹ beobachten wir eine Familie, die nachhaltig vom mehrmaligen Verlust ihrer Heimat beeinflusst ist, aber würden Sie sagen, dass dieses Trauma des Heimatverlustes wirklich vererbt werden kann?

Absolut. Ich glaube, wir können sehen, dass das ursprüngliche Trauma (Heimatverlust) sich in unterschiedlicher Art und Weise in Unzufriedenheit, Ruhelosigkeit, den zersplitterten Identitäten späterer Generationen manifestiert. Die jüngsten Generationen setzen nicht mal einen Fuß nach Palästina und trotzdem sind viele Facetten ihrer Identität (ob sie sich mit ihr identifizieren oder nicht) beeinflusst von den Diskontinuitäten in ihrer Familiengeschichte.

Sie und Ihre Familie haben an vielen verschiedenen Orten gelebt. Wie hat das ständige Umziehen von einer Stadt in die nächste seine Spuren hinterlassen bezüglich Ihrer eigenen Identität?

Einerseits brachte es mich zum Schreiben, weil ich diesen Akt als einzige Konstante (konstanten) Ankerpunkt in einer ansonsten chaotischen Welt empfunden habe; andererseits brachte es mich dazu, mich der klinischen Psychologie zu widmen und in meinem Beruf mit Geflüchteten und Migranten zu arbeiten. Das dauernde Umziehen machte mir die Bedeutung davon, sich Inseln der Beständigkeit in der Welt abzustecken, bewusster.

Was bedeutet „Heimat“ für Sie und hat sich diese Bedeutung im Laufe Ihres Lebens verändert?

Für mich wurde die Idee einer “Heimat“ über die letzten paar Jahre sehr viel abstrakter. Sie basiert auf und wurzelt in einer Vorstellung, die mit Menschen, Sprache, Werten und Traditionen zu tun hat – Dingen, die beweglich sind, anders als ein Haus oder ein Land.

Die Figuren in Ihrem Roman sind körperlich und psychisch versehrt aufgrund der Vertreibungen; sie halten an speziellen Objekten fest, die die Überreste ihrer verlorenen Häuser und Heimaten verkörpern. Was fehlt diesen Familien – vielleicht – im Vergleich zu Familien, die schon viele Jahre oder gar Jahrhunderte am selben Ort leben?

Sie müssen oftmals mit weniger auskommen. Wie gesagt, ich denke, diese Familien sind letztlich auf Konzepte und beweglichere Objekte angewiesen, die ein Zuhause und einen gewissen Ort repräsentieren: Das kann alles sein – ein altes Teeservice oder sicherzustellen, dass ihre Kinder ihre Muttersprache sprechen. Oft gibt es nicht dieselbe Art von Ritualen oder gelebte Traditionen wie in Familien, die sich nicht vom Fleck rühren – es ist beispielsweise schwieriger, sich sonntags zum Abendessen zu treffen, wenn die Familie über den Globus verstreut ist.

Die Widmung, die Ihrem Buch vorangestellt ist, lässt darauf schließen, dass Ihre Familie eine Familie von Geschichtenerzählern ist. Ist das Ihre Familientradition oder etwas, von dem Sie sagen würden, dass viele palästinensische Familien es teilen?

Ich denke, beides. Ich stamme aus einer langen Linie von Schriftstellern und Geschichtenerzählern in unterschiedlichsten Medien, aber es gibt auch eine starke Tradition des Geschichtenerzählens in der arabischen Kultur im Allgemeinen. In von Diaspora geprägten Gemeinschaften wie der palästinensischen wird Geschichtenerzählen zu einem Weg, sich dem Vergessen der Auslöschung zu widersetzen – man erzählt, um sich und der Welt zu vergewissern, dass man immer noch existiert.

Ist das Kaffeesatzlesen, wie es Ihre Figur Salma für ihre Familie und Freunde macht, immer noch üblich in Palästina? Wie wichtig ist es für die Figuren in Ihrem Roman allgemein, Traditionen aufrechtzuerhalten?

Diese Tradition gibt es in allen arabischen Haushalten, ob sie gelebt wird, hängt natürlich von der Familie ab, und ob es jemanden gibt, der weiß wie man Kaffeesatz liest. Ich denke, etwas, was wir in »Häuser aus Sand« sehen, ist, wie zerrissen diese Familie hinsichtlich des Festhaltens an Traditionen ist, weil die Figuren zu unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Kulturen und Ländern aufgewachsen und sozialisiert worden sind.

Glauben Sie, dass es heute mehr Migrantengeschichten und -romane gibt als vor, sagen wir, zwanzig Jahren?

Interessante Frage! Die Geschichten wurden vermutlich auch vor zwanzig Jahren geschrieben und weitererzählt, aber ich glaube definitiv, dass es heute wahrscheinlich mehr veröffentlichte Bücher zu diesem Thema gibt, die in westlichen Zielgruppen kursieren. Es ist ein Segen, dass diese Geschichten und Perspektiven verstärkt normalisiert und humanisiert werden.

 

Die Fragen stellte unsere Kollegin Vanessa Briese.

Foto: (c) Luc Kordas

 

 

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