John von Düffel im Gespräch über seinen neuen Roman

20.07.2021
John von Düffel im Gespräch über seinen neuen Roman

ERZÄHLEN VOM VERÄNDERTEN LEBEN
John von Düffel im Gespräch über seinen neuen Familienroman »Die Wütenden und die Schuldigen«


Ein protestantischer Pfarrer in der Uckermark, der dem Tod ins Auge blickt. Eine Anästhesistin der Charité, die mit einem Rabbi zusammen in Quarantäne gerät. Ein Kunststudent, der heillos in seine Professorin verliebt ist und in eine Welt der Betäubung abdriftet. Und Selma, die Enkelin, Tochter und Schwester der Genannten, die diese Familie irgendwie auffangen und die Verbindung halten soll – der Stoff Ihres neuen Romans birgt reichlich Konflikte und Themen. Und dann kommt auch noch Corona?
Da geht es meiner Romanfamilie nicht anders als den meisten anderen Familien in der Realität. Die Pandemie hat viele Konflikte verschärft, Risse und Bruchstellen offengelegt. Es ist der Brandbeschleuniger der Geschichte, aber auch eine Krise der zwei Geschwindigkeiten: Einige Veränderungen und Anpassungsvorgänge passieren rasend schnell, fast von heute auf morgen, andere Entwicklungen gehen langsam vor sich, fast schleichend inmitten des Stillstands.

Das zeitliche Setting des Romans ist klar verortet: Die Geschichte beginnt in den letzten Märztagen vor dem sogenannten ersten Lockdown im Frühjahr 2020, und geht dann, etwa zwei Wochen später, im April 2020 weiter. Ist das nicht sehr nah dran an heute?
Einerseits ja, und andererseits scheint es sehr weit weg. Wenn ich persönlich auf mich und mein Umfeld zur Zeit des ersten Lockdowns zurückblicke, komme ich mir ganz schön ahnungslos und naiv vor. Inzwischen, glaube ich, sehen wir alle die Welt mit anderen Augen. Insofern gibt es einen Abstand zu den Anfängen der Krise, auch wenn sie noch lange nicht zu Ende ist. Und es lohnt sich schon, der Frage nachzugehen, was war damals, was ist heute? Was ist in der Zwischenzeit mit uns passiert? Und wie finde ich eine Sprache oder ein Verständnis für diese Veränderungen? Dennoch, und das ist mir sehr wichtig: „Die Wütenden und die Schuldigen“ ist kein Roman über Corona, sondern in erster Linie eine Familiengeschichte in einer extremen Zeit.

Wenn Sie die Begegnung der Charité-Ärztin Maria mit einem Rabbi schildern und sie dabei mit dem Problem kämpfen lassen, alle Abstands- und Hygiene-Regeln zu beachten und dennoch nicht antisemitisch zu wirken, dann scheint Corona aber mehr zu sein als nur eine Kulisse ...
Das ist es ja auch in Wirklichkeit. Abstandsregeln stellen unsere sozialen Beziehungen auf den Kopf. Kontaktbeschränkungen zwingen uns, über Zugehörigkeiten nachzudenken, Nähe und Distanz werden umgewertet – das alles sind ja fundamentale Verwerfungen. Doch in dem Roman geht es nicht um die Maßnahmen als solche, sondern um die existenziellen Themen, auf die sie uns stoßen: Was heißt Krankheit, was Gesundheit? Wie sehen wir das Leben, das Sterben und den Tod? Ich glaube, es ist höchste Zeit, über diese großen Fragen auch wieder in anderen Dimensionen nachzudenken als in Infektionszahlen, Inzidenzwerten und Intensivbettenbelegung. Die Öffnung beginnt im Kopf. Und ich halte es für eine wichtige Aufgabe von Literatur, erzählerisch und reflektierend einen Rahmen für eine Auseinandersetzung mit erweitertem Horizont zu spannen.

Auch in einem politischen Sinn?
Vor allem auf einer existentiellen Ebene. Was wir in den letzten anderthalb Jahren erlebt haben, ist in seiner menschlichen und gesellschaftlichen Tiefendimension noch völlig unbearbeitet und unverstanden. Wir kennen haufenweise Corona-Anekdoten, aber noch keine Geschichte. Die Zusammenhänge und Verknüpfungen mit allem, was war und was kommt, fehlen komplett. Mehr noch: Wir müssen überhaupt erst erforschen und lernen, wie wir von dem veränderten Leben erzählen. Das ist sicher nicht tagespolitisch, aber es ist kritisch in dem Sinne, dass es bisher keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den übergeordneten Fragen gegeben hat, nur billigen Trost, Zweckoptimismus und Durchhalteparolen.

Aber für Romanverhältnisse sind Sie doch mit einer Familiengeschichte aus dem Frühjahr 2020 beinahe tagesaktuell ...
Ja, allerdings hauptsächlich, um Gegenwart und Vergangenheit in Verbindung zu bringen und Bezüge herzustellen. Es geht mir nicht um den Text zur aktuellen Krise, sondern um den Kontext. Die Pandemie ist ja kein Asteroid, der die Erde aus den Fernen des Weltalls trifft und erschüttert. Sie hat etwas mit uns und unserer Lebensweise zu tun. Dem versuche ich im Erzählen nachzugehen. Auch wenn sich der Roman recht rasant durch die Zeit und die verschiedenen Sichtweisen bewegt, er erzählt auch rückwärts, wendet sich den Anfängen zu und sucht nach größeren Zusammenhängen.

Die Familie ist wie schon bei Ihren Romanen „Vom Wasser“ und „Houwelandt“ der Hauptschauplatz der Krise. Erzählt wird aus dem Blickwinkel dreier Generationen: aus der Sicht des sterbenden Großvaters Richard Thomann, protestantischer Pfarrer a. D. in einem uckermärkischen Dorf, in dem die Kirche zugemacht hat; aus Sicht von dessen Schwiegertochter, der schon erwähnten Charité-Ärztin Maria, sowie von ihrem Künstlersohn Jakob, der nach einer Trennung wohl oder übel zu seiner Mutter zurückziehen muss, und von seiner jüngeren Schwester Selma, die zu ihrem todkranken Großvater aufs Land fährt. – Warum diese vier verschiedenen Stimmen und Perspektiven?
Weil die Wahrheit dazwischen liegt. Jede dieser Figuren hätte einen Roman für sich verdient, aber es geht um das Dazwischen. Es wäre doch vermessen zu glauben, eine einzelne Sichtweise könnte einer so vielschichtigen Veränderung wie der, die uns gerade umtreibt, erzählerisch gerecht werden. Noch dazu handelt es sich bei den vier Stimmen nicht um typische Vertreter ihrer Generation, sondern um sehr eigenwillige Charaktere und Persönlichkeiten. Das hat mit dem Spannungsfeld Familie zu tun: Je individueller die Stimmen, desto schärfer wird das Gesamtbild. Und das Verbindende ist oft gar nicht die Ähnlichkeit, sondern die Leerstelle. Gerade bei diesem Roman in diesen Zeiten ist mir klargeworden, wie sehr Familie sich um ihre Lücken und Leerstellen formiert. Die Abwesenden oder Verschwunden bilden das Zentrum.

Wie die verschwundenen Männer in Marias Familie?
Eine der wichtigsten Leerstellen ist sicher der nach einem Suizidversuch in einer Klinik abgeschottete Sohn, Ex-Mann und Vater, Holger Thomann. Unter den Umständen vom Frühjahr 2020 ist er fast unerreichbar. Für jede der Figuren bedeutet er eine Lücke, einen Phantomschmerz der anderen Art. Und je nachdem, welcher Sichtweise man folgt, erfährt man ganz andere Details und Deutungen von dieser nicht in Erscheinung tretenden Person. Sie ist im Leben der anderen viel präsenter, als sie es wahrhaben wollen.

Und damit verbinden sich die zentralen Motive Wut und Schuld?
Mit den Verschwundenen, den Lebenden wie den Toten, haben wir unsere Wut- und Schuldgeschichten. Und sie sind nicht nur merkwürdig unerlöst, sondern gehen ineinander über und vermischen sich. Was ich auch erst im Erzählen herausgefunden habe, ist, dass Wut und Schuld keine trennscharfen Kategorien sind. Und es handelt sich erst recht nicht um simple Gegensätze nach dem Motto: Hier die Schuldigen, da die Wütenden. Wut und Schuld sind auf vielerlei Art miteinander verknüpft. Sonst wäre der Wütendste immer der Unschuldigste – und das ist definitiv nicht so.

Wenn man den Titel liest, denkt man automatisch an die Wutbürger oder auch Querdenker und ihre Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien ...
Die Frage nach dem Verhältnis von Wut und Bürgerlichkeit finde ich sehr interessant, allerdings weniger die laute Wut, über die ohnehin viel und eher viel zu viel berichtet wird. Die stille Wut wird nicht gesehen und nicht gehört: die Wut der Vernünftigen und Angepassten, die Wut der Assimilierten. Dieser stille Wutstau ist sicherlich größer geworden. Und er erschüttert die bürgerliche Ordnung viel mehr als das laute Gebrüll und Getrommel.

Als Ausweg aus der Verstrickung von Wut und Schuld beschreibt der Roman nur die Betäubung. Stehen wir tatsächlich – wie es an einer Stelle Ihres Buches heißt – am Beginn eines „pharmazeutischen Zeitalters“?
Der Figur, die das sagt, dem Kunstszene-Dealer Henk, würde ich persönlich nicht über den Weg trauen. Aber ich fürchte, wenn man die weltweit wachsende Abhängigkeit von der Pharmaindustrie sieht, kann man nur sagen, er hat auch nicht immer Unrecht ...

Das Impfen ist das eine, doch das andere ist die Palliativmedizin, die bei der Sterbebegleitung zum Einsatz kommt und die nicht mehr heilen, sondern nur noch lindern soll ...
Ob diese strikte Unterscheidung zwischen Heilen und Lindern so haltbar ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber ich habe mich durch die Zusammenarbeit mit der Berliner Palliativmedizinerin Petra Anwar für ihr Buch „Was am Ende wichtig ist“ sehr mit dem Stoff beschäftigt. In einem Satz gesagt: Es geht nicht nur darum, Menschen das Leben zu retten, sondern auch das Sterben. Das ist eine ist so wichtig wie das andere.

Auffällig ist, dass neben den menschlichen Schicksalen und Zeitläuften auch die Tierwelt bei Ihnen eine große Rolle spielt. Das beginnt mit einem schwarzen Kater, der dem Pfarrer-Großvater zuläuft, der eigentlich im „Haustier-Zölibat“ lebt. Es geht weiter mit einer Liebesgeschichte bei der Eisbärenwacht in Spitzbergen und kulminiert in einer Trennungsszene im Eisbärenkostüm. Was hat es mit diesen Tiergeschichten auf sich?
Das ist vielleicht sogar das Gewagteste an dem ganzen Buch: die Herausforderung, das Verhältnis von Mensch und Tier zu beschreiben in seiner seltsamen Schizophrenie zwischen Mitgefühl und Zerstörung, Tierliebe und Beherrschung beziehungsweise Ausbeutung. Aus meiner Sicht ist das der vielleicht größte blinde Fleck der Pandemie, dass wir Corona nicht als Symptom eines gestörten Naturverhältnisses betrachten. Wenn es stimmt, dass das Virus auf einem Wildtiermarkt auf den Menschen übergesprungen ist, dann spricht das Bände. Wenn es nicht stimmt, bleibt die Tatsache, dass aus Sicht der Tierwelt wir die Pandemie sind. Oder um es mit einem meiner persönlichen Lieblingssätze im Roman zu sagen: Als es heißt, dass der Eisbär das gefährlichste Landraubtier auf dem Planeten sei, schüttelt Holger Thomann den Kopf und erwidert: „Das gefährlichste Landraubtier auf diesem Planeten ist der Mensch.“