Interview mit Tessa Korber

20.07.2021
Interview mit Tessa Korber

Was Autor*innen selbst lesen, was sie inspiriert, das ist ja immer spannend. Aber entscheiden Sie selbst, was Sie uns erzählen möchten: Welches Buch hat Sie zuletzt beeindruckt? Welches Buch hat Sie in Ihrem Leben am meisten inspiriert? Welches Buch hätten Sie gern selbst geschrieben?
Für mich waren schon als Schülerin die Ilias und die Odyssee wichtig. Ich nahm persönlich am trojanischen Krieg teil, natürlich auf Seiten Trojas. Sieger sind etwas Banales. Von daher vermutlich meine unausrottbare Melancholie und die Neigung, das Leben als Geschichte von Verlusten zu verstehen.
Die Odyssee hat früh meinen Blick auf jedes Meer und jede Küste geprägt. Kein Schiff, keine Bucht ohne den Gedanken an sie. Noch ein vorgeformter Blick auf das Leben: das Irren von Insel zu Insel, von Anderem zu Anderem, auf der Suche nach Heimat. Wer verlangt nicht nach seinem Ithaka?
Ich kann die Odyssee immer wieder aufschlagen, mich dem Rhythmus der Hexameter überlassen, all die archetypischen Namen, Bilder und Situationen, die durch mein Denken wandern.
Was ich gerne geschrieben hätte? Einen Satz von Peter Kurzeck. Die Kinder rannten, rannten über das Feld und bis ans Ende des Sommers. Wie so ein Alltagsbild ins Mythische kippt – das ist etwas, was bei mir an tiefen Bedürfnissen zupft. Das könnte ich zu gerne.

Was war der erste literarische Text, den Sie in Ihrem Leben geschrieben haben?
Das war ein Gedicht in der Schule, das wir anlässlich von Weihnachten schreiben mussten. Uns wurden einige Worte vorgegeben, dazu der Marschbefehl: Kreuzreim. Ich weiß noch, die letzte Zeile lautete: „Ein Licht erglänzt im Dunkel der Welt.“ Und dass meine Mutter das immer mit einer gewissen Andacht vorlas und nach einer Pause seufzend nachschob: „schön“.
Danach habe ich viele Jahre schlechte Gedichte geschrieben, mit einigen guten Zeilen dazwischen. Für manche von ihnen suche ich heute noch nach einem Zuhause.

Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl, schreiben zu können?
Als mein erstes Buch angenommen wurde. Das war ein Glücks-Schock. Und als das Lektorat dann kaum etwas zu beanstanden fand. Da dachte ich, ich könnte das. Dann kamen Jahre des Lernens. Inzwischen, 30 Jahre später, fange ich langsam an zu glauben, dass ich jetzt tatsächlich einige Dinge beherrsche. Aber bei jedem neuen Buchprojekt beginnt alles von vorne, man ist halb Profi, halb immer wieder Novize und muss es sein, sonst kann nichts wirklich Neues entstehen.

Warum schreiben Sie? Was hat den Ausschlag für die Arbeit an Ihrem letzten Buch gegeben?
Den Ausschlag gibt immer der 3. oder 4. Ideenfunke, der in dieselbe Richtung fliegt. Einer reicht nicht. Man hat ein Zitat im Ohr, einen Lesefund gemacht, eine Erinnerung, die etwas – vorerst noch Unklares – von einem will, sieht etwas, das man nicht vergisst, aus oft noch ganz unklaren Gründen. Das sind erste Funken. Sie bleiben wirkungslos, wenn sich das Erlebnis nicht wiederholt, wenn nicht Ideen, Momente, Zitate und Stimmen dazukommen, die in dieselbe Richtung zielen, die dasselbe meinen. Oft fängt man dann an zu begreifen, worum es gehen könnte. Man schreibt herum, denkt herum – und wenn dann noch etwas dazukommt, dann wird es zwingend: Man hat ein Thema und muss schreiben.
Bei „Alte Freundinnen“ z. B. war das diese uralte Idee, die in meinen Freundeskreisen schon seit dem Studium herumgeisterte: „Im Alter ziehen wir zusammen.“ Aber wir hatten ja keine Ahnung, was Altwerden bedeutet. Dann habe ich eine Zeitlang in einem Altersheim gejobbt, da nahm eine Szene Form an, die jetzt am Anfang des Romans steht. Dann lebte ich eine Weile in einem Haus auf dem Land – so kamen Dinge zusammen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehörten, auf einer bestimmten Ebene aber schon.

Werden die Zweifel größer oder kleiner?
Tatsächlich kleiner. Ich werde freier, das merke ich, habe weniger Ängste, weniger Sorge um Fehler. Zum Teil, weil ich mich auf das verlassen kann, was ich gelernt habe in punkto Schreiben. Zum anderen, weil das Leben mich auf die harte Tour von vielen Ängsten befreit hat, indem es sie wahr werden ließ. Jetzt habe ich sie hinter mir. Was kann mir noch passieren? Meine Bereitschaft, mich zu verbiegen, ist rapide gesunken. Aber natürlich bin ich noch immer derselbe stets gern zu Selbstzweifeln bereite Mensch, der ich immer war.

Was haben Sie für das Schreiben aufgegeben?
Aufgegeben? Was sollte man dafür aufgeben müssen? Das Schreiben hat mich immer nur bereichert. Ich lebe mit und von meinen Ideen, das würde ich gegen nichts eintauschen. Vielleicht wäre eine bürgerliche Karriere sicherer und planbarer gewesen? Die Situation gerade zeigt doch, wie wenig planbar und sicher alles im Leben ist. Ich habe Zwang und Langeweile nie länger als ein paar Monate ausgehalten.

Wer sind Ihre wichtigsten Testleser*innen?
Mein Mann, Elmar Tannert, der selber Schriftsteller ist. Auf sein Urteil kann ich mich 100 % verlassen. Er hat auch diesen Fragebogen korrekturgelesen. :-)

Welche Ideen haben Sie geklaut und von wem?
Ideen sind etwas Lebendiges, Wucherndes, ständig sich Teilendes und mit anderem Verbindendes. Sie mutieren, noch während man darüber redet und existieren in tausenderlei Variationen weiter. Wenn vier Leute Eier aus einem Entennest „klauen“ und sie ausbrüten, wird aus einem Ei eine Lerche schlüpfen, aus einem andern ein Labrador, aus dem dritten eine Wärmflasche, aus dem letzten ein Drache. Aus keinem eine Ente.
Einige Kollegen und ich haben das mal mit der Anthologie „Leiche sucht Autor“ ausprobiert: Jeder bekam dieselbe dieselbe Ausgangssituation. Heraus kamen dennoch lauter grundverschiedene Stories: andere Figuren, anderer Plot, anderer Ton. Nicht eine Kopie war dabei.
Manchmal nimmt man etwas auf, weil man denkt, dass das Potential dieser Idee nicht ausgeschöpft wurde, dass da mehr geht. In den Jahren des Nachdenkens über „Alte Freundinnen“ bekam ich einen Roman in die Finger, in dem 4 alte Männer eine WG bilden, und mein erster Gedanke war: Mist, jetzt kannst du das nicht mehr machen. Dann begriff ich, dass das Buch in eine ganz andere Richtung ging. Zum einen, weil es eine Laborsituation herstellte, u. a. dadurch, dass alle Protagonisten sehr reich waren. Ich wollte aber Menschen zeigen, die im Leben stehen, für die Altern kein abstraktes Problem darstellt, sondern ein sehr lebensweltliches. Und der andere Roman bog ab in Richtung aktive Sterbehilfe. Mir würde es aber, und das wurde mir durch die Lektüre erst klar, um Freundschaft gehen und um die miteinander gelebte Zeit. Es kann also anregen, klären und helfen, das Eigene zu finden, wenn man sich mit anderen Ideen auseinandersetzt.
Was gar nicht geht: Etwas 1:1 übernehmen, weil es gut funktioniert. Und es dann genauso machen. Das wäre Raub. Ich glaube auch, die Leser würden so was merken.

Wie (anti)autobiografisch ist Ihr aktueller Roman?
Alle Romane sind autobiographisch und sind es nicht. Man erschafft sie aus der eigenen Lebenserfahrung, aber man deutet diese Erfahrung zu einer Geschichte. Das Leben selbst ist ja keine Geschichte, es ist immer nur das Leben, ohne Form, ohne gesicherten Sinn. Und man baut einen fiktiven Raum, in dem mehr und anderes möglich ist als in den Grenzen des eigenen Lebens. Ohne diese Grenzüberschreitung wäre es uninteressant.
Klar haben meine Freundinnen und ich oft übers Zusammenziehen im Alter geredet. Aber wir haben es nie getan und hatten Gründe dafür. Und sind das meine Freundinnen? Ich kenne sie alle, aber keine von ihnen existiert so wie in dem Buch. Jede der 4 Freundinnen ist ein Kaleidoskop, in dem ich Züge dessen sammelte, was ich an vielen Frauen erleben durfte – und an mir. Und das habe ich dann zu einem Typ geformt.

Wenn Sie eine Figur in Ihrem Buch sein könnten, welche wäre es und warum?
In meinem eigenen Buch? Nein, da kenne ich mich zu gut aus.
Ich würde gerne in Ovids Metamorphosen leben, denn dann könnte ich meine Gestalt wechseln, könnte Pflanze, Tier oder Landschaft werden. Ein sehr tröstlicher Gedanke.

Fällt es Ihnen schwer, Ihre Figuren am Schluss gehen zu lassen?
Nicht, wenn das Ende mir richtig erscheint, dann habe ich sie dahin gebracht, wo sie hingehören, dann kann ich gut loslassen. Ich lebe während des Schreibens mit meinen Figuren, aber wenn sie im Buch sind, trennen sich unsere Wege. Sie werden dann gelesen und beginnen mit den Lesern neue, eigene Leben, die mich auch nichts mehr angehen. Da muss man sich raushalten wie eine Mutter aus den Beziehungen ihrer Kinder.
Etwas anderes ist es mit Serienhelden, wenn die Serie eingestellt wird, ehe man den Helden an sein Endziel gebracht hat. Das kann wehtun.

Ihr letztes Buch wird verfilmt und Sie können Regisseur*in und Schauspieler*innen besetzen. Wen würden Sie auswählen?
Wenn ein Regisseur einen Stoff wählt, auch wenn das zufällig meiner ist, dann wird das seine Vision, und er sollte die Schauspieler wählen und die künstlerischen Entscheidungen treffen. Ich bin Buchmensch, ich denke über mein nächstes Buch nach. Das ist das, was ich kann und was mich interessiert.

Was wollten Sie mit 16 werden? Könnten Sie sich einen anderen Beruf vorstellen?
Ich wollte Archäologin werden. Ein in gewisser Weise verwandter Beruf, ich wollte ja Welten ausgraben, die anders waren als die gegenwärtige, vielleicht schöner, vielleicht geheimnisvoller, die aber etwas über die Herkunft unserer Welt erzählen und sie erklären. Dass ich solche Welten aus Worten erschaffe, statt sie kniend mit Skalpell und Pinsel aus dem Boden zu kratzen, ist angesichts meiner Gelenkschäden vermutlich eine vorausschauende Wahl gewesen.

Gehen Sie in Buchhandlungen, um zu sehen, ob Ihre Titel vorrätig sind?
Nein, das ist mir peinlich.

Haben Sie eine Lieblingsbuchhandlung?
Mehrere. Buchhandlungen, und ich meine kleine, inhabergeführte Buchhandlungen mit einem liebevoll gewählten, individuellen Sortiment, wo man nicht auf Bestsellerstapel trifft, sondern auf Überraschungen, und die gut beraten, sind wunderbare, rettende, magische Orte, die niemals verschwinden dürfen, nie! Ich suche sie auf, wenn es mir nicht gut geht und ich Trost und Ablenkung brauche, und es funktioniert immer, egal wie groß der Kummer sein mag. Wie jedes gute Rettungsboot müssen sie nah sein, deshalb sind es im Laufe eines Lebens mit vielen Umzügen, wie dem meinen, mehrere verschiedene. Finanziell ist das ruinös. Ein Grund mehr, Trost zu suchen. Sie sehen das Problem?

Was hätten wir noch fragen sollen?
Danke, dass Sie nicht gefragt haben: Wie kommen Sie auf Ihre Ideen? Und: Kann man davon leben?