Interview mit Luise Meergans

14.09.2020

Interview mit Luise Meergans,
Abteilungsleiterin Kinderrechte und Bildung (Deutsches Kinderhilfswerk e.V.)

Je mehr man sich mit der Welt der Kid-Influencer* innen beschäftigt, desto stärker drängt sich die Frage auf, wie Kinder, die ein Leben ohne Kamera und Inszenierung gar nicht kennen, sich fühlen müssen. Wie denken Sie darüber?

Das ist eine sehr wichtige Frage. Und für mich, also aus Sicht von jemandem, die im Kontext von Kinderrechten arbeitet, eine handlungsleitende Frage. Dennoch können wir bisher nur spekulieren, denn für diesen Bereich gibt es noch keinerlei Langzeitstudien. Ich wüsste auch nicht, dass solche Studien laufen. Dies liegt u. a. daran, dass das Influencing im Kinderbereich ein relativ neuer Prozess ist.
Mit Miley von »Mileys Welt« haben wir ein Mädchen, das jetzt seit acht Jahren aktiv ist. Und da wird’s so langsam interessant, die Entwicklung von klein auf bis zur Jugendlichen zu verfolgen.
Gleichzeitig ist es aber auch schwierig, überhaupt an diese Leute heranzukommen. Für die Medien ist es z. B. nahezu unmöglich, weil es einen gesellschaftlichen Diskurs gibt, der sehr negativ für die betroffenen Personen ausgeht, und von daher inzwischen von den Eltern stark geblockt wird.

Was wir aber natürlich haben, sind Erkenntnisse aus einem verwandten Bereich. Wenn wir auf Kinderschauspieler*innen oder Kinderstars im Allgemeinen gucken, gibt es viele Negativbeispiele, z. B. Macaulay Culkin oder Britney Spears.
Wir wissen also, dass frühe Berühmtheit unter bestimmten Aspekten zu Schäden in der Entwicklung führen kann.
Selbstverständlich ist das nur bedingt vergleichbar, weil es einen Unterschied macht, ob mehrere hunderttausend Leute Macaulay Culkin in einer Rolle in den 80er Jahren im Kino gesehen haben (u. a. »Kevin – Allein zu Haus«) oder ob es ein YouTube-Video von einem Mädchen und seinen realen Erlebnissen gibt, das 73 Millionen Leute weltweit gesehen haben. Wir reden hier von ganz anderen Reichweiten und ganz anderen unmittelbaren Reaktionen, denen Kinder im Influencing-Bereich begegnen.

Dazu kommt die ständige Verfügbarkeit der Inhalte.
Genau. Wenn wir dies mit den Kinderstars der vergangenen Jahre vergleichen, musste man schon ins Kino gehen, um Macaulay Culkin zu sehen. Das ist bei Miley & Co. heute nicht der Fall. Diese Videos können – egal, wo man gerade ist – jederzeit auf dem Smartphone abgerufen werden. Und jede*r kann die Videos öffentlich kommentieren, wobei es beim Niveau der Kommentare kaum eine Grenze nach unten gibt.

Solche Phänomene kann man natürlich auch unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten betrachten. Kinder haben ein Anrecht auf Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung. Es ist als Menschenrecht in unserem Grundgesetz verankert, weil es sowohl für die Charakterentwicklung als auch für die Entwicklung zu einem selbstständigen demokratischen Menschen entscheidend ist.

Ein Kind, das permanent unter Beobachtung der Öffentlichkeit steht und überhaupt nicht zwischen der Privatperson und der öffentlichen Person des eigenen Selbst zu unterscheiden weiß, wird auch nicht wissen, wo die Grenze zwischen Intimsphäre und Öffentlichkeit ist. Gerade diese Unterscheidungen und der damit einhergehende Lernprozess sind aber ungeheuer wichtig und werden in Kitas vermittelt, wenn es zum Beispiel darum geht, alleine auf die Toilette zu gehen und die Tür zu schließen. Beim Kinder-Influencing werden all diese Lernprozesse unterbrochen oder es kommt gar nicht erst dazu.

Der zweite wichtige Aspekt im Kontext der Entwicklungspsychologie ist das Verhältnis zu den Eltern. Beim Kinder-Influencing stecken die Eltern in der Regel als treibende Kraft hinter dem Ganzen und fungieren interessanterweise auch oft als Arbeitgeber*innen. Das ist entwicklungspsychologisch höchst problematisch, weil wir hier wirklich von einer Abhängigkeit sprechen müssen, gerade von jungen Kindern. Professor Rosenstock von der Universität Greifswald spricht an dieser Stelle von einem emotionalen Missbrauch der Kinder. Das ist ein hartes Urteil, aber ich kann das an vielen Stellen tatsächlich unterschreiben.

Wo verlaufen Ihrer Meinung nach die Grenzen zwischen dem (wichtigen) Recht auf digitale Teilhabe, einem harmlosen Hobby und Kinderarbeit? Würden Sie zustimmen, dass es sich um Kinderarbeit handelt, sobald Geld im Spiel ist?
Ich würde sogar noch früher ansetzen. Wir definieren Arbeit als eine wirtschaftliche Tätigkeit, bei der Geld fließt oder die darauf ausgerichtet ist, dass Geld fließen wird. Gerade im Influencing-Bereich ist es extrem wichtig, auch kleine Accounts in die Betrachtung einzubeziehen. Es gibt sehr viele Kanäle, die ein paar Hundert Follower*innen haben und noch kein Geld verdienen, weil sie für die Werbeindustrie schlichtweg noch nicht interessant sind. Aber sie arbeiten darauf hin. Und das, was sie dafür tun, sind arbeitstechnisch dieselben Prozesse, die ablaufen würden, wenn eine Bezahlung erfolgte. Insofern würde ich die Grenze im Sinne des Kinderschutzes sehr, sehr viel früher und auch sehr streng ansetzen. Alles, was darauf hinausläuft, dass Geld fließen wird und als wirtschaftliche Tätigkeit gesehen werden kann, ist Kinderarbeit. Und Kinderarbeit ist in Deutschland grundsätzlich verboten. Es gibt nur wenige Ausnahmen.

Um auf den sehr wichtigen Aspekt von kultureller, medialer und gesellschaftlicher Teilhabe einzugehen: Im Jugendarbeitsschutzgesetz gibt es Möglichkeiten, Ausnahmeregelungen zu erwirken. Das sind funktionierende Prozesse, mit denen im analogen Leben sehr gute Erfahrungen gemacht werden. Wenn ich mein Kind also dabei unterstützen möchte, mediale Teilhabe zu (er-)leben, was ich grundsätzlich befürworte, dann gäbe es dafür Wege.

Gibt es aus Ihrer Sicht einen Ausweg in Bezug auf die momentane Entwicklung? Gerade im Bereich des Kinder-Influencings scheint viel Halbwissen über gesetzliche Regelungen und wenig Kontrolle im Spiel zu sein.
Das ist eine komplexe Frage. Ich versuche mal, das Ganze zu sortieren und beginne mit dem Thema Kinderarbeit. Wir haben, wie gerade bereits erwähnt, ein grundsätzlich funktionierendes System, wobei es klar definierte Ausnahmeregelungen im Jugendarbeitsschutzgesetz gibt. Es existiert allerdings ein Umsetzungsdefizit, weil die Verantwortlichkeiten nicht geklärt sind. Das heißt, es muss eine Instanz geben, die eindeutig sagt: Die Gewerbeaufsichtsämter sind nicht nur für den analogen, sondern auch für den digitalen Raum zuständig. Nehmt eure Verantwortung wahr. Wenigstens dort, wo ihr bereits wisst, dass Inhalte in euren Zuständigkeitsbereich fallen. Ich weiß natürlich, dass dies nicht einfach ist. Es ist ein Unterschied, ob ich einen Produktionsbetrieb während eines Werbespot-Drehs besuche und mir dort eine Arbeitserlaubnis vorlegen lasse oder ob ich zu Weihnachten an einer Haustür klingele und gucke, ob das Geschenkeauspacken ausschließlich fürs private Familienalbum gefilmt wird oder ob gefilmt wird, um es am Ende einem Millionenpublikum auf YouTube vorzustellen. Das ist eine gewaltige Aufgabe, der sich die Gewerbeaufsichtsämter aber unbedingt stellen müssen.

Und wie sollte es weitergehen?
Dann müsste man schauen, wo im Jugendarbeitsschutzgesetz eventuelle Anpassungen vonnöten sind. Aktuell ist es so, dass Eltern ein wichtiger Baustein sind, wenn es darum geht, den Kindern eine Arbeitserlaubnis auszustellen. Hierbei wird aber nicht berücksichtigt, dass Eltern zugleich Arbeitgeber*innen sein können, wie es im Kinder-Influencing häufig passiert.
Aktuell sind in diesem Zusammenhang auch ärztliche Gutachten notwendig. Hier würde ich im Kinder-Influencing-Bereich dringend empfehlen, einen Schwerpunkt auf psychosoziale Entwicklung zu legen und dabei auch psychiatrische Gutachten einzufordern. Im Vergleich zu Kinderschauspieler*innen, die mal hier und mal dort einen Job haben und eher punktuell aktiv sind, handelt es sich beim Influencing um eine langfristig angelegte Tätigkeit.
Wir haben hier Kinder, die ihre ganze Familie ernähren. Es gibt Erwachsene, die unter einer solchen Verantwortung zusammenbrechen. Unter diesen Umständen muss das Ganze einfach psychologisch und therapeutisch begleitet werden.

Gibt es weitere Aspekte, die Sie anführen würden?
Selbstverständlich gibt es noch andere Aspekte. Ich fände es wichtig, dass die Anbieter-Plattformen anfangen, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Es gab vor zwei Jahren einen ersten Schritt dahin. Damals ist medial ein sehr großer Aufschrei erfolgt, als bekannt wurde, dass unter bestimmten Videos, z. B. von Kindern, die Leichtathletik machen, Timecodes kommentiert wurden. Diese Timecodes wurden zur Vernetzung in pädophilen Kreisen genutzt, um untereinander Szenen auszutauschen, in denen Kinder in bestimmten Posen zu sehen waren. YouTube hat kurz darauf die Kommentar-Funktion bei Videos abgeschaltet, die Inhalte für Kinder bereithalten. Aber die Leute sind nicht blöd.

Wenn ich einen Kanal anlege, muss ich mich nicht festlegen, ob sich meine Inhalte insgesamt nur an Kinder oder nur an Erwachsene richten, sondern kann das auch mischen und bei jedem Video-Upload im Kanal neu festlegen. Viele der Kinderkanäle veröffentlichen zwischendurch auch immer wieder Beiträge für Erwachsene. Das wird dann auch mal über Instagram beworben und dabei gesagt: »Heute habe ich ein neues Video hochgeladen, das ihr wieder kommentieren könnt. Also kommentiert, was das Zeug hält. Spamt uns voll.«

Es wird also geradezu inszeniert?
Exakt. Und da muss ich sagen: Nice try, YouTube, aber nicht zu Ende gedacht. Bitte weiter daran arbeiten und vor allen Dingen: sich des grundsätzlichen Problems annehmen.

Abschließend möchte ich einen letzten wichtigen Punkt anführen: Ich finde, dass es vor allen Dingen eine gesellschaftliche Debatte ist, die wir führen müssen. Ich kann den Eltern nicht die alleinige Schuld geben oder am Ende sogar noch den Kindern. Die Schuldfrage ist sowieso immer eine schwierige Sache. Mitverantwortung tragen auch Millionen Leute, die sich diese Art von Videos  angucken. Es ist immer eine Frage von Angebot und Nachfrage. Wenn es für uns als Gesellschaft nicht mehr relevant ist, sich kleine Mädchen mit Meerjungfrauenflossen anzugucken, die sich durchs Schwimmbecken aalen, weil es kinderschutz- und kinderrechtsverletzungstechnisch problematisch ist und gegen unser Verständnis von Menschenwürde geht, dann wird sich das Problem zwar nicht unbedingt erledigt haben, aber es wird reichweitenärmer und weniger relevant. Und deshalb finde ich es so wichtig, dass wir permanent auch darüber im Gespräch bleiben, welches Bild wir als Gesellschaft von Kindheit haben wollen und was für ein Bild von Kindheit wir damit schaffen.


Abschließender Hinweis: Hierbei handelt es sich um das Transkript eines mündlich geführten Interviews mit Luise Meergans. Dieses Interview wurde im Kontext der anstehenden Veröffentlichung von Delphine des Vigans Roman »Die Kinder sind Könige« geführt und in einer leicht gekürzten Fassung in der entsprechenden Begleitbroschüre abgedruckt, die Sie hier online abrufen können.