Interview mit Andreas Schäfer

24.07.2020
Interview mit Andreas Schäfer

Von beweglichen Häusern, unbarmherziger Makellosigkeit und der Frage, wie aus dem Blätterrascheln alter Bäume eine Geschichte entsteht – ein Gespräch mit Andreas Schäfer zu seinem Roman »Das Gartenzimmer«

Dein Roman kreist um ein ganz bestimmtes Haus, genauer eine Villa am Rande des Berliner Grunewalds. Es ist ein Haus zwischen den Zeiten, ein Haus, das zum Spielball der Interessen verschiedener Menschen wird – aber mehr und mehr auch zum eigenen Protagonisten. Wie kamst Du auf die Idee, ein Haus nicht nur zum Setting, sondern zum Akteur der Handlung zu machen? Welche Notwendigkeiten, aber auch Möglichkeiten ergeben sich daraus für einen Text?

Es freut mich, dass Du sagst, das Haus wird zum Akteur. Zu Beginn des Schreibens war das vor allem Hoffnung: ein Haus zu erschaffen, das als eigenmächtig empfunden wird. Erst einmal besteht ein Haus aus Holz und Stein, Fensterglas und – was damals gerade erst üblich wurde – ein wenig Stahl. Es steht unbeweglich und fest verankert im Grund. Aber schon wenn man anfängt, über seine ursprünglichste Funktion hinauszudenken – es bietet Schutz vor dem Chaos der Welt –, beginnt es sich zu bewegen. Ein Haus ist Traum und Versprechen: Traum vom Angekommensein und Versprechen auf ein glückliches Leben – und insofern ein immaterielles Gebilde aus Hoffnung und Erwartung. Zieht man in ein reales Haus, wird man zwangsläufig mit der Diskrepanz von Vorstellung und Wirklichkeit konfrontiert – und dabei schaut das Haus mitunter recht fremd und unheimlich zurück. Im Fall der »Villa Rosen« kommt hinzu: Sie ist Wohnhaus und Baudenkmal. Sie gehört Privatpersonen, aber irgendwie doch auch der Öffentlichkeit. Und sie verfügt über perfekte Proportionen, falls es so etwas überhaupt gibt. Ihre Räume haben einen realen besänftigenden Einfluss auf Bewohner und empfängliche Besucher. Das ist das Erstaunliche an guter Architektur. Man ist von ihr unmittelbar angesprochen, körperlich, ähnlich wie von Musik, nur subtiler vielleicht, und das Verstehen und Erklärenwollen hinkt dem immer hilflos hinterher: Fühlen und Stottern. Und hier greifen, wenn man so will, das Schöne und die Forderung nach dem Guten ineinander. Das Schöne berührt und spricht an, und mit dieser Berührung ist auch ein Anspruch verbunden: Werde mir gerecht! Zeige Dich meiner würdig. Aber wie, bitteschön, soll das gehen? Im Rumpelkammerkleinklein des Alltags? Und ehe man sich‘s versieht, zeigt die Schönheit ihre erbarmungslose Seite. Makellosigkeit hat etwas schrecklich Unmenschliches, sie löst Bewunderung aus, aber es ist auch eine Leere um sie herum. Das Haus erhebt und es verurteilt, es kehrt die guten und schlechten Seiten der Menschen hervor. Beim Schreiben hat es großen Spaß gemacht, einerseits der feinstofflichen Wirkung des Hauses nachzugehen und mich andererseits auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten zu tummeln, der sich rund um Tauberts Ruhm angesiedelt hat.

Der Roman umspannt ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte; er setzt ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Bau der »Villa Rosen« durch den noch jungen Architekten Max Taubert, der später zu Weltruhm gelangen wird. Angesichts des Detailreichtums, der historischen Fakten meint man, es mit einer historischen Figur zu tun zu haben, doch wenn man recherchiert, stellt man fest, einen Max Taubert hat es nie gegeben. Gibt es reale Vorbilder für die Figur Tauberts? Und was hat Dich bewogen, keine historische Persönlichkeit zu wählen, sondern eine fiktive Figur?

Ich wollte bei der Gestaltung der Figur so frei wie möglich sein. Figuren entwickeln sich im Verhältnis zu anderen Figuren und im Fortgang einer Handlung; in diesem Spiel der Kräfte wollte ich mich nicht von der Frage gängeln lassen, ob der reale Architekt X oder Y so oder so ähnlich gehandelt haben könnte. Reale Berühmtheiten haben zwar eine Strahlkraft, als Autor katapultiert man sich mit ihnen in Nullkommanichts in die Höhe des vermeintlich Bedeutsamen, aber man wird auch schnell zu ihrer Geisel, weil im Hintergrund immer das öffentliche Bild der Person mitläuft und mit der Romanfigur abgeglichen wird. Außerdem sind sie innerhalb eines Romans schnell zu dominant und nehmen anderen Figuren das Licht. Gleichwohl bewegt sich Max Taubert in einem biografischen Korridor mit Stationen, kollektiven Erfahrungen und Herausforderungen, wie sie für eine bestimmte Generation moderner Architekten prägend und lebensbestimmend waren. Bruno Taut, Erich Mendelsohn, Mies van der Rohe, Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer, Ferdinand Kramer, Max Cetto und viel andere. Einige von ihnen haben noch im Kaiserreich angefangen zu bauen und konkretisierten nach dem Schock des Ersten Weltkriegs ihre Vision vom Neuen Bauen zusammen mit der Vorstellung von einer gerechteren Gesellschaft. Diese Phase dauerte nur fünfzehn Jahre, eigentlich sogar kaum ein Jahrzehnt, wenn man bedenkt, dass erst nach der Hyperinflation ab 1924 viel gebaut werden konnte. Von den Nationalsozialisten als »Kulturbolschewisten« verunglimpft und jeglicher Arbeitsgrundlage beraubt, wurden sie dann ins existentielle Nichts gestoßen und ins Exil gezwungen, wo sie ein drittes Mal neu beginnen mussten, kleine oder internationale Karrieren machten. Nur eine Handvoll von ihnen kehrte dann Jahrzehnte später nach Deutschland zurück, Mythen inzwischen, und bekannt nicht nur für ihre Bauten, sondern als »gute Deutsche«, die die gute moderne Architektur in die Welt getragen haben, auch mit einem tiefem Seufzer der Erleichterung idealisiert. Mit einer solche Biografie spiele ich: die Wiederbelebung eines vormodernen Baudenkmals und seiner Geschichte hier – die Zurüstungen durch die Nachwelt dort: Die Politik instrumentalisiert Tauberts Werke als »versöhnliche Orte der Begegnung«, während Geschmacksbürger ihr Wissen um Architektur und die schönen Dinge vor allem zur Distinktion und wie ein Statussymbol nutzen: »Mein Gott, ich stehe in einem Taubert-Haus! Das muss ich erstmal sacken lassen!« Taubert ist übrigens keineswegs ein guter Mensch. Er ist geradezu skrupellos. Architekten sind keine freien Künstler, sie benötigen für die Umsetzung ihrer Ideen Bauherren und sehr viel Geld. Das Verhältnis zur Macht bildet ihre moralische Achillesferse.

Ein wesentliches Element des Buches ist die Architektur, das Nachdenken über Raum, Licht, Proportionen, Wirkung. Wie bist Du zu diesem Thema gelangt? Welche Verbindungen gibt es zwischen der Literatur und der Architektur, wie stehen diese Disziplinen oder kulturellen Bereiche zueinander?

Auf dem Feld der Literatur bin ich Leser und Autor, was Architektur angeht nur naiv Erlebender. Mein Verhältnis zur Architektur ist ein laienhaftes, fast esoterisches. Mehr als die Architekturgeschichte oder die Beschreibung äußerer Merkmale interessiert mich die Wirkung von Räumen, also das, was in ihnen anwesend, aber nur schwer in Worte zu fassen ist. Zu Beginn des Romans hatte ich weder ein bestimmtes Haus noch einen Architekten im Kopf. Der Beginn erwuchs aus einer Atmosphäre, dem ganz besonderen, eigenwilligen Klima von Berlin Dahlem. Wir waren damals gerade in den Süden der Stadt gezogen, und nachdem ich unsere Tochter zur Schule gebracht hatte, saß ich regelmäßig vor einem Café in Dahlem Dorf, im Blick das reetgedeckte Dach der nahen U-Bahnstation. Es waren klare, kühle Herbsttage, und die Stimmung intim wie auf dem Land. Es lag aber auch eine universitäre Aufgekratztheit von Studenten und Dozenten der nahe gelegenen Freien Universität in der Luft. Früher wurde Dahlem das Oxford Deutschlands genannt, weil zwischen den herrschaftlichen Häusern und Grünanlagen zum Ende der Kaiserzeit die Institute der neugegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angesiedelt wurden. Hier forschte und lebte etwa Albert Einstein bis zu seiner Emigration 1932. In einigen dieser Institute wurden von den Nationalsozialisten später die schlimmsten Menschenexperimente geplant und durchgeführt. All das war mir an diesen Herbtsmorgenden fast überbewusst. Es waren Momente von weltvergessener Stille und einer fast gespenstischen Geschichtspräsenz. Und jetzt, dachte ich, bitte ein Buch zu diesem erzählerischen Blätterrascheln der alten Dahlemer Bäume.

Im Fokus des Romans stehen neben Architektur, Raum, Historie ganz klar existenzielle Fragen – es sind menschliche Dramen – Familien, Beziehungs-, aber auch politische und gesellschaftliche Dramen –, die sich abspielen und Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbinden. Konntest Du Parallelen zwischen den verschiedenen Zeitebenen feststellen? Gibt es etwas, bei dem Du sagst: »Genau das ist immer wieder das Problem oder neutraler, das sind Fragen, die sich die Menschen immer wieder stellen«?

Die Kapitel entstanden in der gleichen Reihenfolge, in der sie nun im Buch erscheinen. Es haben sich also intuitiv Spiegelungen und Motivvariationen ergeben. Eine wiederkehrende Frage lautet: Wie schaffe ich es, künstlerische Entfaltung, die – wenn man sie ernst nimmt – etwas Radikales und Ausschließliches hat, mit Zweisamkeit zu verbinden? Also das ewige Ringen um ein harmonisches Verhältnis von Ich und Wir. Durch die Zeiten hinweg brennt in einigen Figuren auch ein ähnlich heftiges Bedürfnis nach Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Anerkennung. Es beginnt bei dem jüdischen Philosophen Adam Rosen, der zum Christentum konvertiert, um an der Universität einen Platz zu finden. Es wütet natürlich in Max Taubert, der aus einfachen Verhältnissen kommt, aber auch bei Hannah Lekebusch, die im Neuen Berlin um die Jahrtausendwende von der Kulturbourgeoisie angenommen werden möchte, und schließlich in Ana, der Tochter von Hannas Putzfrau, die sich die dazu verdammt sieht, die Aufsteigerträume ihrer illegal eingewanderten Mutter zu erfüllen.

Ist diese Verbindung zwischen den Zeiten, zwischen den Motiven der Menschen ein Grund für Dich gewesen, einen formal wie inhaltlich so komplex und vielschichtig angelegten Roman zu schreiben? Was genau waren der Reiz und die Herausforderungen dabei?

Es war schnell klar, dass ich auf drei Ebenen erzählen möchte. Ich hatte ein Bild von drei ineinander übergehenden Schleifen vor Augen. Ich vermute, das hat mit dem Eindruck zu tun, der Frieder Lekebusch überkommt, als er die »Villa Rosen« – damals noch halb verfallen und also ungeküsst – das erste Mal erblickt. Er hat das Gefühl, die Hand nach dem Haus auszustrecken und dabei die Zeit berühren zu können. Ein altes Haus ist – dabei einem Roman nicht unähnlich – ein Gefäß, in dem Zeit erfahrbarer sein kann als anderswo, ihr Verstreichen einerseits, aber auch traumatisches Nichtvergehen. Der Journalist Julius Sander sagt einmal über das Haus, es besitze keinen klassischen Keller, keinen Ort für die Vergangenheit. In ihm sei alles Geschehene immer gegenwärtig. Er meint damit Ereignisse aus der Nazizeit und zugleich den nie vergangenen eigenen Schmerz über den Verlust einer geliebten Person. Ich wollte wenigstens eine Ahnung dieses Zeitgefühls erhaschen, indem ich von sechzig Jahren in Berlin erzähle und dabei den Rahmen eines Tages kaum überschreite.

Das Interview führte Lektorin Angela Tsakiris

Copyright Foto im Beitragsbild: © Mirella Weingarten