Alabama in den Zwanzigerjahren. Roscoe T. Martin ist Mitte dreißig und in seiner Zeit eine Art Pionier: Er arbeitet als Elektriker und das mit großer Leidenschaft. Als seine Frau Marie jedoch die Farm ihres Vaters erbt, sieht er sich gezwungen, mit ihr und dem gemeinsamen Sohn aufs Land zu ziehen. Er findet sich in einem Leben wieder, das er so nie gewollt hat. In der Ehe kriselt es, auch aufgrund wirtschaftlicher Probleme. Um der Farm zu neuem Aufschwung zu verhelfen, zapft Roscoe, unterstützt vom schwarzen Hilfsarbeiter Wilson, staatliche Stromleitungen an. Eine Weile geht alles gut – bis ein Techniker bei einer Routinekontrolle einen tödlichen Stromschlag erleidet. Roscoe wird wegen Mordes und Diebstahls zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, während Wilson als Zwangsarbeiter in einer Kohlemine quasi-versklavt wird: eine Schuld, die auf Roscoe ebenso lastet wie auf seiner Frau Marie. ›Ein anderes Leben als dieses‹ ist gleichzeitig ein intensives Familienporträt, ein Sittengemälde Alabamas zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und ein großer Gefängnisroman, der eindrücklich einen Sozialraum zeigt, in dem sich alle moralischen Regeln verkehren.
Antonia Marker (DuMont-Lektorin): Mrs Reeves, ›Ein anderes Leben als dieses‹ erzählt die Geschichte von Roscoe T. Martin, einem Elektriker, der einfach nur seine Arbeit anständig erledigen will. Doch seine guten Absichten haben dramatische Folgen. Was glauben Sie – warum scheitert er?
Virginia Reeves: Letzten Endes denke ich, dass nichts einfach nur »gut« oder »schlecht« ist. Es gibt keinen Erfolg ohne Scheitern. Roscoes Fall ist extrem, aber beispielhaft dafür, wie Entscheidungen funktionieren. Wir treffen unsere Wahl und handeln danach, und dann leben wir mit den Konsequenzen dieser Handlungen. Ich interessiere mich vor allem für die Konsequenzen, mit denen wir nicht rechnen. Und auf eine gewisse Weise hat Roscoe schon Erfolg – er versorgt die Farm mit Strom und läutet damit eine Zeit des Wohlstands ein –, doch dieser Erfolg sorgt für den Untergang eines anderen Menschen. Aber macht der Tod George Haskins Roscoes Arbeit zunichte? Zerstört ein entsetzlicher Fehler alles, was man zuvor geleistet hat? Ich habe keine Antwort auf diese Fragen, aber ich hoffe, dass mein Roman die Leser dazu bringt, sich diese Fragen zu stellen.
Ihr Roman spielt im Alabama der Zwanzigerjahre und erzählt von realen Ereignissen und Orten – unter anderen dem Kilby Prison. Was interessiert Sie an dieser Zeit und diesem Setting? Und wie haben Sie sich beidem angenähert?
Meine Großeltern setzten sich in Lillian, Alabama, zur Ruhe, als ich noch in die Grundschule ging, und ich fuhr beinahe jedes Jahr einmal dorthin, um sie zu besuchen. Meine Eltern sind oft umgezogen und auch ich habe im Erwachsenenalter öfter den Wohnort gewechselt, während meine Großmutter noch immer in dem Haus von damals lebt. So ist Alabama auf eine gewisse Weise eine Konstante in meinem Leben, ein Ort, der mir geblieben ist. Einige Jahre bevor ich über das Thema für diesen Roman gestolpert bin, habe ich bereits einmal über die Gemeinde, in der meine Großmutter lebt, geschrieben. In meinem zweiten Jahr am Michener Center belegte ich einen Geschichtskurs, mit der Intention, mehr über die Geschichte Alabamas zu erfahren. Ich kannte mich mit historischer Recherche nicht aus und erinnere mich daran, wie ich einfach in eine Suchmaschine der Uni-Bibliothek »Geschichte Alabamas« eintippte. Das erste Buch, das ich dann aus dem Regal zog, war die gebundene Ausgabe einer Dissertation, die in den frühen Dreißigerjahren erschienen war. Der Titel lautete ›These Came Back‹. Die Arbeit untersuchte die Wahrscheinlichkeit, nach der Verurteilte gegen Bewährungsauflagen verstoßen würden – ausgehend von den Persönlichkeitsmerkmalen der jeweiligen Straftäter. Sie stellte sich als eine der besten Charakterstudien heraus, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Anhand dieser Statistiken habe ich die Figur Roscoe entwickelt. Mit ihm fing es an und alles Weitere ergab sich von ihm ausgehend. Kilby Prison, die Verpachtung von Strafgefangenen, Elektrizität – all diese Elemente kamen später dazu, neue Aspekte, die im Laufe meiner Recherche mein Interesse weckten.
Auch die Themen Rassentrennung und Rassismus werden in Ihrem Roman behandelt: Roscoe, der einen Unfall und dadurch den Tod eines Mannes verschuldet, wandert für dieses Vergehen in einem eher progressiven Gefängnis. Wilson hingegen, der Schwarze, der auf der Farm arbeitet und eigentlich überhaupt nicht für den Tod George Haskins verantwortlich gemacht werden dürfte, wird in ein Kohlebergwerk geschickt, wo er Zwangsarbeit leisten muss und einen Arm verliert. Hat es Sie nicht unglaublich wütend gemacht, diesen Roman zu schreiben und sich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen?
Kurz gesagt, ja. Dieser Aspekt der amerikanischen Geschichte macht mich in der Tat wütend und diese Wut ist zum Teil dafür verantwortlich, dass ich das Gefühl hatte, dieses Buch schreiben zu müssen. Nichtsdestotrotz war es unglaublich schwierig, über Rassismus zu schreiben. Es gibt viele Vorentwürfe für den Roman, die meine Gefühle zu diesem Thema, mehr noch als Roscoes und Wilsons, reflektieren. Ich habe durch meine Recherchen eine Flut von Gräueltaten entdecken müssen, durch die ich erst einmal hindurchwaten musste, um diejenigen auszumachen, die in dieser Geschichte erzählt werden mussten. Die Explosion des Banner-Kohlebergwerks, ein Ereignis von dem Roscoe im zweiten Teil des Buches berichtet, hat tatsächlich stattgefunden. Diese Katastrophe dient in meinem Roman der Veranschaulichung der grausamen Verpachtung von Strafgefangenen. Ich brauchte mehrere Anläufe, bis sich die Darstellung dieses Ereignisses in Kombination mit meiner Figurenzeichnung und deren Leben richtig anfühlte. Die Verpachtung von Gefängnisinsassen war für mich die mit Abstand befremdlichste Entdeckung, die ich während meiner Recherche machte. Ich hatte vorher noch nie davon gehört. Die Verpachtung war Sklaverei. Junge, afro-amerikanische Männer wurden an Straßenecken aufgegabelt, wegen Vagabundiererei verhaftet und anschließend etwa in private Kohlebergwerke verkauft. Alabama war der letzte Staat in den USA, der diese Missstände abschaffte – 1928, mehr als sechzig Jahre nach dem Verbot der Sklaverei. Es gibt ein unglaubliches Buch zu dem Thema, »Slavery by Another Name«, von Douglas A. Blackmon, das gerade für eine Dokumentation adaptiert wird.
Etwas, was an Ihrem Roman sehr besonders ist, ist die Figurenzeichnung. Als Leser solidarisiert man sich ständig mit einer anderen Figur. Auf gewisse Weise versteht man sie alle, selbst Marie, die ihren Ehemann verlässt, nachdem er wegen etwas im Gefängnis landet, das er eigentlich für sie getan hat. Jedenfalls scheinen Sie nicht an das erzählerische Konzept eines »Helden« zu glauben. Haben Sie trotzdem eine Figur in ›Ein anderes Leben als dieses‹, die Ihnen etwas mehr als die anderen am Herzen liegt?
Das ist eine schwierige Frage, da ich all meine Figuren auf eine bestimmte Art und Weise gern habe. Ich denke, am meisten fühle ich mich mit Roscoe verbunden. Jedenfalls kann mich in ihn am besten einfühlen. In ihm erkenne ich viel von mir selbst (im Guten wie im Schlechten). Marie mag ich allerdings auch sehr. Ich kann ihre Taten nicht verteidigen, aber ich verstehe, warum sie sich so verhält, wie sie es tut. Wenn es einen Helden in dieser Geschichte gibt, dann ist das Moa, denke ich. Und Wilson kommt direkt an zweiter Stelle. Und die einzige Figur, die komplett ohne Schuld ist, ist Maggie, der Gefängnishund. Für mich steht sie für wahre Gutherzigkeit – etwas, wozu Menschen vielleicht gar nicht fähig sind.
Der Süden Amerikas, die frühen Zwanziger des 20. Jahrhunderts, das ländliche Setting, der Konflikt zwischen Schwarzen und Weißen – Ihr Roman greift Motive anderer Südstaatenromane auf. Welche Bücher und Autoren waren wichtig für Sie, als Sie ›Ein anderes Leben als dieses‹ schrieben?
Diese Frage liebe und hasse ich zugleich. Ich liebe sie, weil es nichts gibt, worüber ich lieber spreche als Schriftsteller und Bücher, und ich hasse sie, weil ich es nie schaffe, mir alles und jeden ins Gedächtnis zu rufen. Dann wollen wir mal – Marilynne Robinson (›Das Auge des Sees‹) finde ich besonders ergreifend), Eudora Welty, Toni Morrison, William Faulkner, Cormac McCarthy, J.M. Coetzee, José Saramago, John Gardner, Virginia Wolff, Vladimir Nabokov, Wislawa Szymborska, Stephen King (der mich wahrscheinlich am längsten beeinflusste; ich las das erste Mal etwas von ihm, als ich elf Jahre alt war), Norman Mailer, Margot Livesey, Jim Crace. Und so viele weitere!
Können Sie uns bereits verraten, wovon Ihr nächster Roman handeln wird?
Ich arbeite gerade an einem Roman mit dem Titel ›The Behaviorist‹, in dem es um die Ehe und Karriere eines staatlichen Psychiaters namens Edmund Malinowski geht. Das Ganze spielt in Montana. Im Kern erkundet ›The Behaviorist‹ zwischenmenschliche Beziehungen. Wir beobachten eine Ehe und stellen fest, dass wir die Konsequenzen unserer eigenen Entscheidungen, auch im Bezug auf die für uns wichtigsten Beziehungen, nie absehen können.
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