Lieber Ben, nun ist es endlich so weit: »Strandgut«, Dein aktueller Roman, ist ab sofort auch in Deutschland erhältlich (Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence) – und direkt auf Platz 9 der SPIEGEL-Bestsellerliste eingestiegen. Was mir während der Lektüre aufgefallen ist: Zwischen Scarborough, dem zentralen Handlungsort von »Strandgut«, und der Robin Hood Bay, allen Leser*innen bestens aus »Offene See« bekannt, liegen nur 12 Meilen Luftlinie. Welche Bedeutung hat die See bzw. das Meer für Dich als Autor – aber auch als Mensch?
Die einfache Antwort wäre wohl schlichtweg, dass ich auf einer Insel lebe – Großbritannien. Und obwohl sie sehr groß ist, sind wir doch immer nur siebzig Meilen oder weniger vom Meer entfernt. Deshalb denke ich, dass wir Briten immer noch so etwas wie eine Inselbewohner-Mentalität haben. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns dieser Tatsache bewusst sind, aber sie muss unsere Sichtweise geprägt haben, im Guten wie im Schlechten.
Ich wohne in einem Haus auf einem Hügel am Rande der Moore hoch oben in Yorkshire – die Brontë-Landschaft aus »Sturmhöhe« ist vielleicht ein landschaftlicher Bezug, den deutsche Leser wiedererkennen könnten –, sodass das Meer und die Küstenlinie für mich etwas ganz Neues sind. Selbst mit 49 Jahren bin ich immer noch aufgeregt, wenn ich an die Küste fahre und das Meer zum ersten Mal sehe. Die Landschaft an der Küste ist ganz anders als dort, wo ich im Landesinneren lebe, ebenso wie die Düfte, Farben und die Tierwelt.
Die englischen Küstenstädte faszinieren mich ebenfalls; im Allgemeinen befinden sie sich dank günstiger Überseereisen und verschiedener anderer wirtschaftlicher Faktoren im wirtschaftlichen Niedergang, aber einige Orte wie Scarborough haben eine Art von verblasster Erhabenheit, die mich anspricht. Sie sind gut gestaltet und waren einst sehr beliebte Reiseziele (vor allem vor einem Jahrhundert oder mehr) und üben immer noch eine starke Anziehungskraft auf viele Menschen aus. Sie bieten einen Einblick in ein älteres England – kein besseres England, sondern eines, das jetzt langsam aus dem Blickfeld verschwindet.
Als ich 12 Jahre alt war, wurde ich außerdem schwer krank, war immer wieder im Krankenhaus und musste mir eine Niere entfernen lassen. Als Teil meiner Rekonvaleszenz nahmen mich meine Eltern sowohl in das malerische alte Fischerdorf Robin Hood's Bay als auch in die Arbeiterstadt Scarborough mit, und erst jetzt, in den letzten Jahren, habe ich endlich erkannt, dass beide Orte für mich mit meinen Erinnerungen an diese Zeit verbunden sein müssen – ich war mehrere Jahre lang krank, hatte dann eine Begegnung mit dem Tod, während ich an der Schwelle zum Teenager stand (was für sich genommen schon verwirrend genug ist), und nahm mir dann Zeit, um mich in diesen Orten am Meer zu erholen. Vielleicht hat die Küste also aus diesen sehr unterschiedlichen Gründen eine emotionale Resonanz auf mich?
Was viele – wenn nicht sogar alle – deiner Romane eint, ist u. a. die Tatsache, dass du Charaktere erschaffst, die den Lesern dauerhaft im Gedächtnis bleiben. Oftmals handelt es sich dabei um auf den ersten Blick ungleiche Personenkonstellationen, zwischen denen dann aber eine besondere Freundschaft entsteht: Dulcie und Robert (»Offene See«), Redbone und Calvert (»Der perfekte Kreis«) oder nun Bucky und Dinah (»Strandgut«). Wie entwickelst du deine Charaktere? Magst du uns einen kleinen Einblick in deinen Schreibprozess geben?
Ich versuche, den Schreibprozess nicht zu sehr zu analysieren, da ich sehr stark an das Konzept des Instinkts und der Intuition glaube – wobei es von größter Bedeutung ist, dem zu folgen, was man im Bauch (oder im Herzen, wenn man es romantisch ausdrücken möchte) fühlt. Nicht denken, sondern tun.
Das Schreiben von »Offene See« gestaltete sich insofern ein wenig denkwürdig, als dass die Figur der Dulcie ganz plötzlich zu mir kam, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich sie auf dem Papier zum Leben erwecke. Sie war da, fast vollständig ausgeformt. Und obwohl die Figur des Robert, des jungen Erzählers, viel von mir hat, entwickelte sie sich viel langsamer; Dulcie schien fast vollständig da zu sein, während Robert, der erst 16 Jahre alt ist, noch in der Entwicklung begriffen war.
Demzufolge beginnen meine Figuren auf recht einfache Weise. Bei »Strandgut« wusste ich, dass ich einen älteren amerikanischen Mann und eine jüngere (aber nicht junge) Engländerin haben wollte – das war das Grundgerüst für den Konflikt und die Freundschaft, die sich entwickelt –, und dann habe ich sie von diesem Ausgangspunkt aus aufgebaut. Es ist ein bisschen wie bei einem Ölgemälde: Man fügt immer wieder Texturen und Farbtöne hinzu, aber erst wenn man sich von ihnen zurückzieht und sie in bestimmte Situationen bringt, beginnt man, mehr über sie selbst zu erfahren: was sie mögen und was nicht, wie sie reagieren, ihre Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Ambitionen.
Die Leser könnten denken, dass ein Autor seine Figuren von Anfang an ausgearbeitet hat, aber das ist bei mir sicher nicht der Fall. Erst wenn ich sie schreibe, scheinen sie aufzustehen und lebendig zu werden. In diesem Sinne fühle ich mich ein wenig wie Dr. Frankenstein – ich erwecke leblose, zweidimensionale Personen zum Leben, die in Wirklichkeit nur als Ideen existieren, bis wir sehen, wie sie mit den verschiedenen Herausforderungen konfrontiert werden, denen wir alle irgendwann einmal gegenüberstehen.
In deinem neuen Roman spielt u. a. die Musik eine gewichtige Rolle, die die Fähigkeit hat, Menschen länderübergreifend zu begeistern und miteinander zu verbinden. Würdest du sagen oder dir wünschen, dass wir uns in der heutigen Zeit mehr auf genau solche Eigenschaften besinnen sollten, die mit Musik, Literatur und Kunst im Allgemeinen einhergehen? Und woher stammt deine eigene Leidenschaft für Musik, die u.a. dazu führte, dass du früher als Musikredakteur um die Welt gereist bist?
Ich denke, Kunst und Kultur sind dazu da, die Realität widerzuspiegeln, aber auch, um ihr zu entfliehen. Wenn wir etwas über unsere Vorfahren erfahren wollen, schauen wir uns die Kultur an, die sie hervorgebracht haben. Für mich ist ein Gemälde von Pieter Bruegel wie eine Seifenoper, und ein Gemälde von Francis Bacon ist wie ein Fenster zu den dunkelsten Momenten der Seele. Aber auch Musik erfüllt diese Funktion – ob es nun ein alter Soul-Song ist, der die Stimmung hebt, eine Hardcore-Punk-Platte, die Energie gibt, oder ein Nick Drake-Album, das tröstet.
Und wenn der moderne Nachrichtenzyklus von Tod, Krieg, Konflikten, Geld und Mord zu viel wird, ziehe ich mich immer in Musik, Literatur und Film zurück. Es gibt immer ein Buch oder ein Lied oder ein Gemälde, das Trost spendet oder die eigenen Gefühle zum Ausdruck bringt. Man muss sich nur einige Staatsoberhäupter der Welt anschauen – Donald Trump zum Beispiel –, um zu sehen, dass sie selten die Freude an der Kunst erlebt haben. Denn in seinem Fall ist er völlig unkultiviert; Geld und Macht scheinen alles zu sein, was zählt, und das ist für mich eine tragische, freudlose Art zu leben.
Meine eigene Liebe zur Musik rührt daher, dass ich in den 1980er Jahren mit Pop-Radio aufgewachsen bin und seit meinem vierten Lebensjahr Schallplatten gekauft habe, und dass ich außerdem einen älteren Bruder und eine ältere Schwester hatte, die einen interessanten und esoterischen Geschmack hatten, dem ich schon in jungen Jahren ausgesetzt war. Um einen richtigen Job zu vermeiden – und weil ich auch vom geschriebenen Wort besessen war – fing ich mit 18 Jahren an, Rezensionen über Alben und Konzerte zu schreiben und sie an Musikzeitschriften zu schicken. Im Alter von 20 Jahren hatte ich es irgendwie geschafft, als freiberuflicher Autor für die (inzwischen aufgelöste) britische Wochenzeitung Melody Maker zu arbeiten. Das war die Ära des Britpop, als Bands wie Blur und Oasis Millionen von Alben verkauften und die Musikindustrie noch vor Geld strotzte. Mit 21 war ich dort Redakteur und fand mich plötzlich in einer Woche in LA, in der nächsten in Mailand und dann in Berlin wieder. Ich war völlig unqualifiziert, aber das Leben verlief schnell, und ich schaffte es irgendwie, zu überleben, indem ich mit meinen Füßen dachte. Mit 25 musste ich das Trinken aufgeben, weil ich viel zu viel Spaß hatte ...
Magst du verraten, wie die Resonanz auf die britische Originalausgabe deines Romans, die bereits im Spätsommer 2024 veröffentlicht wurde, ausgefallen ist? Ich habe in diesem Zusammenhang vernommen, dass die Geschichte sogar verfilmt werden soll?
Der Titel ist gut aufgenommen worden, wobei just in diesen Tagen die Taschenbuch-Ausgabe erscheint, die der eigentliche Gradmesser ist.
Und ja, am Tag, nachdem ich den letzten Punkt bei »Strandgut« gesetzt hatte, begann ich mit der Arbeit an der Verfilmung, die ich zusammen mit dem Produzenten Nickie Sault von Class 5 entwickelt habe. Nickie hat einige fantastische britische Fernsehfilme produziert und auch an der BBC-Verfilmung meines vorherigen Romans »The Gallows Pole« mitgearbeitet, für den ich in meiner Heimat wahrscheinlich am bekanntesten bin. Dies war mein erster Versuch, einen Film zu schreiben, und jetzt beginnen wir mit dem Versuch, ihn zu verfilmen. Ein anderer Roman von mir, »Der perfekte Kreis«, befindet sich ebenfalls in einem frühen Entwicklungsstadium; er liegt in den sehr fähigen Händen eines sehr berühmten britischen Schauspielers, der die Hauptrolle spielen möchte. Es kann allerdings Jahre dauern, bis solche Projekte verwirklicht werden.
Oh, und ich sollte wohl erwähnen, dass »Offene See« dieses Jahr in die Filmproduktion geht, mit Helena Bonham Carter in der Hauptrolle als Dulcie Piper. Ich gehe fest davon aus, dass ich jeden Moment aufwachen und feststellen werde, dass das alles nur ein seltsamer Traum ist...
Eine Frage zum Abschluss: Möchtest du den deutschsprachigen Buchhändler*innen, die dieses Interview lesen (und »Offene See« zum Lieblingsbuch der Unabhängigen 2020 wählten / Anmerkung der Redaktion), vielleicht noch irgendetwas mitteilen?
Im März 2020, ausgerechnet in der ersten Woche der damaligen Corona-Lockdowns, veröffentlichte mein fantastischer Verlag DuMont meinen ersten Roman auf dem deutschsprachigen Markt: »Offene See«. Ich glaube, niemand hatte unter diesen besonderen Umständen konkrete Erwartungen, wie er aufgenommen oder sich entwickeln werden würde – und doch war wohl niemand überraschter als ich, dass sich dieser Roman immer weiter herum sprach, vielfach empfohlen wurde und in der Spitze bis auf Platz 2 der SPIEGEL-Bestsellerliste kletterte.
Für den Rest meines Lebens wird diese seltsame Zeit in der Geschichte immer mit den sehr eloquenten und gedankenvollen Botschaften verbunden sein, die ich von deutschen Lesern und Buchhändlern erhalten habe – und auch heute noch erhalte. Wenn also »Offene See« in dieser Zeit eine Art Hoffnung oder Flucht bot, dann könnte ich nicht stolzer sein. Und obwohl das Schreiben eine einsame Angelegenheit ist, ist das Publizieren eine kollektive Anstrengung. Daher möchte ich allen, die mir geholfen und dazu beigetragen haben, meinen herzlichen Dank aussprechen – insbesondere den unabhängigen Buchhandlungen, die das Herzstück der Literatur sind. Ihre Arbeit ist unverzichtbar.
Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, hat man oft den Eindruck, dass es zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland Reibereien gab, vor allem im zwanzigsten Jahrhundert, aber ich denke, dass die Deutschen und die Engländer in vielerlei Hinsicht verwandte Seelen sind. Aber vielleicht braucht es die Literatur, um uns daran zu erinnern.
(Das Interview führte Torsten Woywod)