Interview mit Melissa Harrison

05.07.2021
Interview mit Melissa Harrison

Melissa Harrison ist Schriftstellerin, Kritikerin und Kolumnistin, u. a. für The Times, die Financial Times und den Guardian. Für ihren hochgelobten Roman »Vom Ende eines Sommers« (Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence) erhielt sie den Literaturpreis der Europäischen Union 2019. An dieser Stelle finden Sie ein Interview, dass wir anlässlich der Veröffentlichung von »Vom Ende eines Sommers« mit der Autorin geführt haben.

Was Autor*innen selbst lesen, was sie inspiriert, das ist ja immer spannend. Aber entscheiden Sie selbst, was Sie uns erzählen möchten: Welches Buch hat Sie zuletzt beeindruckt? Welches Buch hat Sie in Ihrem Leben am meisten inspiriert? Welches Buch hätten Sie gern selbst geschrieben?
Dieses Jahr fand ich »Piranesi« von Susanna Clark besonders toll. Sie ist eine ganz andere Schriftstellerin als ich und hat eine außergewöhnliche Vorstellungskraft. Wirklich atemberaubend.
Als ich acht oder neun war las mir meine Mutter »A Black Fox Running« von Brian Carter vor. Es ist eine Geschichte über Hügelfüchse aus einem abgelegenen Teil des Vereinigten Königreichs, die ich im darauffolgenden Jahrzehnt immer und immer wieder gelesen habe. Mehr als jedes andere hat mich dieses Buch zu einer Schriftstellerin gemacht. Ich war sehr stolz, dass ich daran beteiligt war, als das Buch neu aufgelegt wurde und ich eine neue Einleitung schreiben durfte.
Ich möchte nicht die Bücher anderer Leute schreiben! Die Aufgabe, das, was ich schreiben möchte so gut wie möglich zu identifizieren und ans Tageslicht zu bringen, ist groß genug.

Was war der erste literarische Text, den Sie in Ihrem Leben geschrieben haben?
In der Grundschule verfasste ich eine Beschreibung eines gefrorenen Teichs in einem benachbarten Dorf. Mein*e Lehrer*in behielt mich nach der Stunde da, um mich für den Text zu loben. Ihre Worte habe ich nie vergessen. Viele Jahre später, 2010, gewann ich einen Schreibwettbewerb mit einer Kurzgeschichte über Füchse, die von Brian Carter inspiriert war. Das half mir, erst eine*n Agent*in zu finden und später einen Buchvertrag zu bekommen. 

Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl, schreiben zu können?
Seit meiner Kindheit wusste ich, dass ich gut mit Wörtern umgehen kann, aber das bedeutet noch nicht, dass man ein Buch schreiben kann. Nach der Universität schrieb ich für zehn Jahre keine kreativen Texte, auch nicht heimlich. Ich wollte Schriftstellerin werden, aber ich hatte Angst davor, dass meine Texte für eine Veröffentlichung nicht gut genug sein könnten. Die erste Rezension meines Buches »Clay« war das Zeichen, dass ich es wohl doch konnte.

Warum schreiben Sie? Was hat den Ausschlag für die Arbeit an Ihrem letzten Buch gegeben?
Ich schreibe, weil ich versuchen möchte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, indem ich Menschen mit der natürlichen Welt verbinde und so das Mitgefühl und die Toleranz hervorlocke, die in uns allen schlummern. Es ist zwar nur ein kleiner Beitrag, aber es ist das, was ich kann und weswegen ich hier bin, denke ich.

Werden die Zweifel größer oder kleiner?
Meine Zweifel und Ängste bleiben gleich. Sie ändern sich mit jedem Buch, jedes Mal frage ich mich: ›Bin ich gut genug, um diese Geschichte zu schreiben? Wirklich?‹. Ich möchte aber auch nicht gar keine Zweifel haben, weil ich glaube, dass das bedeuten würde, ich wäre faul und selbstgefällig geworden oder hätte mir kein ausreichend hohes Ziel gesteckt.

Und könnte das etwas mit fortschreitendem Alter und Betriebserfahrung zu tun haben?
Bisher nicht!

Was haben Sie für das Schreiben aufgegeben?
Schlechte Fernsehsendungen. Wie ein*e andere*r Schriftsteller*in mal zu mir sagte: ›Mist kommt rein, Mist kommt raus.‹ Aber auch: lesen. Natürlich nicht vollständig, aber es ist die traurige Ironie des Schreibens, dass es tiefe Einschnitte in der Lesezeit hinterlässt. Vor allem da viele Bücher, die ich lese, keine Bücher sind, die ich mir ausgesucht hätte, sondern Bücher, die man mir in der Hoffnung, dass ich sie unterstütze, zuschickt.

Wer sind Ihre wichtigsten Testleser*innen?
Mein Freund und musikalischer Mitstreiter Peter Rogers, mit dem ich dieses Jahr den Podcast ›Stubborn Light of Things‹ gemacht habe (er war auf Platz 4 der deutschen Apple-Charts für Natur-Podcasts!). Obwohl ich allein und im Stillen arbeite, ist Peter der ideale Gesprächspartner in der Ideenphase.

Welche Ideen haben Sie geklaut und von wem?
Die kreative Vorstellungskraft ist wie ein Komposthaufen. Man packt viele Dinge drauf, die verrotten und nicht wiederzuerkennen sind und irgendwann wächst daraus etwas Neues hervor. Alles, was wir schaffen, kommt von etwas, das wir konsumiert haben, und das ist gut so.

Wie (anti)autobiografisch ist Ihr aktueller Roman?
Jemand wies mich letztens darauf hin, dass alle meine Romane junge, einsame Menschen im Fokus haben, die alle Trost in der Natur finden. Irgendwie war mir das nicht aufgefallen (oder ich hatte es vor mir selbst verheimlicht) – aber es spiegelt sicher meine Kindheit wider. 

Wenn Sie eine Figur in Ihrem Buch sein könnten, welche wäre es und warum?
In all meinen Charakteren steckt ein Teil von mir. Trotz ihres harten Lebens wäre ich gerne Ada – sie lebt ihr Leben mit dem Mann, den sie liebt. 

Fällt es Ihnen schwer, Ihre Figuren am Schluss gehen zu lassen?
Nein, wenn unsere gemeinsame Zeit vorüber ist, bin ich bereit, sie gehen zu lassen. Aber manchmal denke ich noch über sie nach.

Ihr letztes Buch wird verfilmt und Sie können Regisseur*in und Schauspieler*innen besetzen. Wen würden Sie auswählen?
Ich bin mir nicht sicher, aber es wäre großartig, wenn Phoebe Waller-Bridge Constance spielen würde! Sie wäre perfekt in der Rolle.

Was wollten Sie mit 16 werden? Könnten Sie sich einen anderen Beruf vorstellen?
Ich wollte Psychologin sein. Möglicherweise ist das Autorinnendasein gar nicht so viel anders…

Gehen Sie in Buchhandlungen, um zu sehen, ob Ihre Titel vorrätig sind?
Zum Beginn meiner Karriere habe ich das einige Male getan, heute nicht mehr. Wenn ein Buch fertig und veröffentlicht ist, lasse ich es gehen. Ich stecke meine Energie in das nächste Buch und darein, es besser zu machen. 

Haben Sie eine Lieblingsbuchhandlung?
Ich könnte den ganzen Tag damit verbringen, durch die Stapel und Regale in einer Secondhand-Buchhandlung im ländlichen Suffolk zu stöbern: Barnabees Books.

Was sollten wir sonst noch wissen?
Als ich »Vom Ende eines Sommers« schrieb, zog ich von London in den Teil des Landes, in dem mein Roman spielt. Nun lebe ich in einem Landarbeiter-Cottage von 1701, das von alten Bauernhöfen, Weizen- und Gerstenfeldern umgeben ist. Ursprünglich hatte mein Cottage nur zwei Zimmer mit Backsteinboden im Erdgeschoss, das WC war draußen und Wasser gab es nur aus einem Brunnen. Auf einem Holzbalken über der Feuerstelle habe ich zauberabwehrende Markierungen gefunden, die aus der Zeit stammen, in der das Haus gebaut wurde. Es fühlt sich an, als wäre ich zwischen die Seiten meines Romans gezogen …

Foto: © Melissa Harrison