TYRANNEI DES GESTERN
Wir Menschen existieren in dem Wissen, dass wir eines Tages aufhören zu sein. Und so versuchen wir, gegen die Zeit zu rebellieren. Wie Liebende fühlen wir uns zur unerreichbaren Vergangenheit hingezogen, zu imaginierten Erinnerungen, zur Nostalgie. Wenn ich mit dem Smartphone, zu Fuß oder mit dem Flugzeug um die Welt reise, scheint es mir, als wäre die Nostalgie in diesem historischen Augenblick ganz besonders wirkungsmächtig. Die politische Rhetorik unserer Zeit ist voll von ihr. Der »Islamische Staat« und Al-Qaida rufen zur Rückkehr in die – vermeintlich – ruhmreiche Vergangenheit des Islam auf. Die Brexit-Kampagne wurde mit dem Schlachtruf geführt, man wolle an die – vermeintlich – glorreichen Zeiten Großbritanniens anknüpfen. Und schließlich wurde Donald Trump mit dem Slogan »Make America Great Again« Präsident.
All diese Bewegungen sind in ihrem Kern restaurativ. Nostalgie manifestiert sich auch in unserer Populärkultur, mit Superhelden, Superschurken, superironischen Symbolen einer supersexy Vergangenheit. Auch viele der beliebtesten Serien spielen in einer Vergangenheit, die sich massiv vom Heute unterscheidet. Ich habe Mad Men geliebt, meine Frau liebte Downton Abbey. Wir und viele unserer Freunde in Pakistan liebten diese Serien sogar so sehr, dass uns nur zeitweise bewusst wurde, dass sie uns aus unserer längst nicht mehr völlig weißen Gegenwart heraustransportieren. Selbst in »Game of Thrones«, wo feuerspeiende Drachen und untote Krieger auftreten, sind kaum einmal nichtweiße Menschen zu sehen. Die Gesetze des Rassismus scheinen dort unveränderbar. Die Serien gefielen uns trotzdem.
Auch in den sozialen Netzwerken sind wir damit beschäftigt, unsere eigenen jeweiligen Vergangenheiten sorgfältig auszugestalten und mit den Vergangenheiten anderer zu interagieren. Ich kann mich selbst vor fünf Sekunden sehen, meine Freundin vor fünf Stunden, mein erstes Kind vor fünf Monaten, meinen Hund vor fünf Jahren – und ich kann endlos durch diese Archive vergangener Augenblicke streifen, sie mit aktuellen Likes und Filtern vermischen und so neue Hybride aus Vergangenheit und Gegenwart erschaffen. Warum zieht uns die Nostalgie so sehr an? Wenn man Eisbären genügend Zeit gäbe, könnten sie möglicherweise das arktische Eis verlassen und auch in einem wärmeren Klima gedeihen. Wenn aber das Eis, von dem sie abhängen, innerhalb von ein paar Jahrzehnten verschwindet, werden sie aussterben. Unsere menschliche Anpassungsfähigkeit ist wesentlich größer, aber auch wir erfahren Veränderungen als Stress.
Die Welt, in der meine Großeltern aufwuchsen, wäre für deren Großeltern nicht allzu fremd gewesen. Aber die Welt, in der meine Kinder aufwachsen, ist für meine Eltern durchaus befremdlich: eine Welt voller kabellos verbundener Geräte, automatisierter Fabriken, genetisch verändertem Getreide und täglicher Flüge von Lahore nach Rio de Janeiro und Sydney. Vielleicht programmieren wir schon bald unsere Zellen um, bauen Computer in unseren Nervenkreislauf ein, werden damit noch anpassungsfähiger – und letztlich weniger gestresst von all den Veränderungen. Doch für den Augenblick sehen wir nur die Umbrüche und die Unsicherheit vor uns. Gleichzeitig werden die herkömmlichen menschlichen Mittel untergraben, mit solchen Unwägbarkeiten und mit der Unvermeidbarkeit unseres Sterbens umzugehen. Familien leben heute über den gesamten Globus verteilt. Religion wird für politische Ziele zweckentfremdet und damit spirituell entleert. Und die Idee einer einheitlichen Nationalität wird von der Tatsache wachsender Hybridität infrage gestellt. Unsere Reaktion ist vorhersehbar. Die Zukünfte, die wir uns wünschen würden, erscheinen unwahrscheinlich. Die Zukünfte, die wir für wahrscheinlich halten, erfüllen uns mit Angst. Das lässt uns hilflos zurück, macht uns wütend und anfällig für die gefährlichen Rufe von Scharlatanen, Fanatikerinnen und Xenophoben. Wir verlieren den Mut, und in unserer Niedergeschlagenheit werden wir gefährlich. Ein Selbstmordattentäter ist immer auch jemand, der sich selbst umbringt.
Als ich neun war, zog meine Familie aus Kalifornien, wohin wir gegangen waren, damit mein Vater seine Doktorarbeit fertigstellen konnte, wieder nach Pakistan, nach Lahore, wo ich zur Welt gekommen war. Heute kann man sich wahrscheinlich nicht mehr richtig vorstellen, wie tief greifend diese Veränderung für mich damals war. 1980 gab es noch keine E-Mails, die Post war langsam und unzuverlässig. Internationale Telefonate mussten vorab angemeldet werden und kosteten ein Vermögen. Ich hatte eine Welt verlassen und eine andere betreten. Die Menschen, die Gerüche, das Essen, die Sprache – alles war anders. Es gab nur einen Fernsehsender, der auch nur zu bestimmten Tageszeiten sendete. Also wandte ich mich Büchern zu, insbesondere dem Fantasygenre. Ich las »Die Chroniken von Narnia« von C. S. Lewis. Die Vorstellung, dass Kinder durch einen Kleiderschrank in ein fremdes und magisches Land hinüberwechseln, erschien mir vollkommen plausibel. Ich las die Mittelerderomane von J. R. R. Tolkien und war fasziniert von der Bedeutung, die Clans, Familien, Geschichte, Ehre und Förmlichkeiten haben konnten, selbst wenn es die Förmlichkeiten von Hobbits oder Elfen waren. Ich war schon immer ein Tagträumer gewesen, und so verbrachte ich die langen heißen Sommer in Lahore damit, mir Dinge auszudenken. Ich entdeckte meine Faszination für Atlanten und Almanache mit ihren vielfarbigen Karten, ihren Symbolen für verschiedene Bevölkerungsgruppen, für Exportgüter oder Klimabedingungen. Und ich begann damit, selbst Länder zu erschaffen. Ich zeichnete ihre Grenzen, skizzierte ihre Geschichte, welche Güter von dort stammten, welche Sprachen gesprochen wurden. Häufig fanden sich Lahorer und Leute aus San Francisco unter den Bewohnern, oft auch Menschen aus China, Kenia, Brasilien oder Frankreich. Ich brauchte dieses selbst entwickelte Geschichtenerfinden, um mich in einer verwirrenden Welt zurechtzufinden. Es half mir, Teile meiner Existenz zusammenzubringen, die mir aufgrund ihrer zeitlichen und räumlichen Distanz voneinander getrennt erschienen. Das Geschichtenerfinden half auch dabei, mir eine Zukunft für mich globale Promenadenmischung auszumalen. Und schließlich wurden die Welten, die ich mir erschuf, zum Ausgangspunkt für meinen Beruf: Vor 25 Jahren, ich war noch keine 22, habe ich meinen ersten Roman begonnen.
Während der vergangenen 30 Jahre habe ich in den USA, Großbritannien und Pakistan gelebt. Fast täglich korrespondiere ich mit Freunden und Kolleginnen auf verschiedenen Kontinenten. Und dieses Leben passt zu mir, auch wenn es für meine Großeltern unvorstellbar war. Lange vor Anbruch der Geschichte haben menschliche Wesen sich um flackernde Lagerfeuer versammelt, um sich Geschichten zu erzählen und sie zu teilen. Wir tun das noch immer, auch wenn die Lagerfeuer heute leuchtende Bildschirme sind. Fiktionale Erzählungen geben uns so vieles. Vor allem bieten sie ein Gegenmittel gegen Nostalgie. Indem wir uns etwas vorstellen, schaffen wir das Potenzial dessen, was sein könnte.
Geschichten besitzen die Kraft, uns von der Tyrannei dessen zu befreien, was war und was ist. Diejenigen von uns, die schreiben, genießen die besondere Freiheit, das zu schaffen, was wir uns wünschen. Wir Geschichtenerzähler sind die Start-ups des Kommenden, die verrückten Erfinder in den Forschungsabteilungen der menschlichen Vorstellungskraft. Die Zukunft ist zu wichtig, um sie Berufspolitikern oder Technologinnen zu überlassen. Wir brauchen alternative Vorstellungen und Perspektiven.
Wir brauchen radikale, politische Literatur. Diese Literatur muss nicht aus Dys- oder Utopien bestehen. Vielmehr muss sie mit all der Verrücktheit und Weisheit, zu der wir imstande sind, prüfen, wohin wir erstrebenswerterweise gehen könnten – als Individuen, Familien, Gesellschaften, Kulturen, Nationen, Erdlinge. Dazu muss Literatur nicht zwingend in der Zukunft spielen. Es erfordert vielmehr eine radikale politische Auseinandersetzung mit dem Heute – und dadurch auch mit dem möglichen Morgen.
Mohsin Hamid. ›Tyrannei des Gestern‹. In: Der Freitag 10/17. 09.03.2017, S.13. Aus dem Englischen von Holger Hutt. Im Original erschienen unter ›We Need to Imagine a Brighter Future.‹ In: The Guardian. 25.02.2017.