Am 22. Mai erschien mit »Dunkles Arles« der nunmehr fünfte Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc – eine schöne Gelegenheit für DuMont-Lektorin Angela Tsakiris, sich mit dem Autor Cay Rademacher über die gesamte Reihe auszutauschen.
Angela Tsakiris: Ihre Krimireihe führt die Leser in die Provence. Wie kam es zur Auswahl dieses Settings, und was reizt Sie an der Gegend?
Cay Rademacher: Meine Frau reizt mich an dieser Gegend ... Ernsthaft: Meine Frau ist Provenzalin, wir pendeln schon seit vielen Jahren zwischen Deutschland und Südfrankreich. Wir wohnen dort in einer alten (mehr oder weniger renovierten) Ölmühle. Im Jahr 2013 haben wir uns entschlossen, mit unseren Kindern ganz in den Midi zu ziehen. Die Provence ist einerseits uraltes Kulturland, eine Region, in der Griechen und Römer ebenso ihre Spuren hinterlassen haben wie van Gogh oder Camus. Andererseits ist sie in vielen Ecken immer noch rau, wild und fast archaisch. Das gibt es in dieser Kombination wohl nirgendwo sonst auf der Welt. Und dann gibt es da noch das unfassbar klare Licht, die Sonne, das Essen, die Nähe zum Meer und zu den Alpen, die Menschen ... Nicht nur für die Provence, sondern für das ganze Land gilt: Frankreich ist zurzeit für einen Journalisten, Historiker und, klar, Krimi-Autoren wie mich ein Traum: nach Jahren, wenn nicht Jahrzehnten der Erstarrung löst sich hier allenthalben was. Spektakulär sieht man das in der neuen Regierung unter Präsident Macron, im Alltag merkt man es aber überall – es bewegt sich. Wohin das führen wird? Niemand weiß das. Ob das gut enden wird? Manches wohl, anderes eher nicht. Aber genau das ist wahnsinnig spannend und „Material“ ohne Ende. Von Terroristen und anderen Extremisten über Politiker und Filous aller Art bis zu den Machenschaften rund um die nun errungenen Olympischen Spiele lässt sich das alles wunderbar zu Krimi-Stoff verarbeiten.
Capitaine Roger Blanc, der Held Ihrer Provence-Krimireihe, steht zu Beginn von MÖRDERISCHER MISTRAL vor den Trümmern seines Lebens, er wurde von Paris in die Provinz versetzt. Als Pariser hat er es auch erstmal nicht leicht in seiner neuen Heimat. Ist das Verhältnis zwischen Stadt und Land in Frankreich wirklich so angespannt?
Weniger zwischen „Stadt“ und „Land“, eher zwischen „Paris“ und dem „Rest der Welt“. Es ist eine Sache, als Deutscher vom „französischen Zentralismus“ zu lesen und eine ganz andere, ihn dann als Bürger selbst zu erleben. Ein Beispiel: Die Regierung ist von den massiven Protesten gegen ihr Gesetz, das auch gleichgeschlechtlichen Paaren die Zivilehe ermöglicht, böse überrascht worden. Niemand hätte im ziemlich kleinen Zirkel der Macht damit gerechnet, dass Zehntausende als Rebellen gegen dieses Vorhaben auf die Straße gehen würden. Als Konsequenz wurde im Bildungsministerium „la lutte contre l'homophobie“, der „Kampf gegen die Homophobie“ zum Unterrichtsinhalt erhoben. Gut und schön soweit − nur musste unsere fünfjährige Tochter in der ersten Klasse deshalb auf eine Stunde Sportunterricht verzichten, damit dieser neue Stoff gelehrt werden kann. Fünfjährigen in einer Dorfschule Schwulenfeindlichkeit auszutreiben, das genießt nun nicht gerade die höchste Priorität von Eltern und Lehrern in der Provence ... Aber man kann absolut nichts machen: Anordnung ist Anordnung, der Unterricht wird durchgezogen. TGV-Verbindungen von Marseille, Aix-en-Provence oder Avignon Richtung Seine hin oder her, Paris kann schon sehr, sehr fern sein.
Ihre Romane werden von einer wunderbar vielfältigen Personnage bevölkert. Was zeichnet die Menschen im Süden Frankreichs aus? Und wie wirkt sich das auf die Romanhandlung aus?
In der Provence prallen nicht Welten aufeinander, sie vermischen sich und das übrigens schon seit Jahrhunderten. Auf der einen Seite ist der Midi weltoffen, denn immer neue Ströme spülen Fremde hierhin: Künstler aller Art und aller Länder, aber auch Gelehrte der Universitäten, Offiziere der großen Militärbasen, Notablen aller Richtungen (Richter, Notare), Playboys und Lebenskünstler, Manager, Hightech-Gründer, Arbeitsimmigranten aus Nordafrika, dem Balkan, Spanien, Osteuropa. Auf der anderen Seite bleibt hier die Mehrheit der Familien über Generationen hinweg dem hergebrachten Ort und Lebensunterhalt verbunden. In unserem Dorf hält ein Bauer Schafe, ein anderer Ziegen, um die Häuser erstrecken sich Rebstöcke, Getreidefelder, Olivenbäume. Auf den Étang de Berre und das Mittelmeer fahren Fischer, in den Städten sind Bäckereien und Metzgereien noch im Familienbesitz und gehören nicht zu irgendwelchen Ketten. Die Menschen hier sind einerseits sehr heißblütig – es kann sehr schnell sehr laut werden. (Und, wir sollten das nicht zu folkloristisch denken, es kann auch sehr schnell gewalttätig werden.) Andererseits sind sie auch wahnsinnig entspannt und lassen ihre Mitmenschen so leben, wie sie leben wollen. Dieses Miteinander will ich nicht idealisieren, im Gegenteil: Der rechtsextreme Front National holt hier bei Wahlen locker jede vierte Stimme. Aber genau diese potenziell konfliktträchtige Mischung vollkommen unterschiedlicher Charaktere ist für einen Krimiautoren selbstverständlich extrem reizvoll.
Man lernt auch immer viel über die Gegenden der Provence kennen, in die Sie uns Leser führen; Roger Blanc ermittelt oft in Fällen, die sich nur so dort ereignen können: zum Beispiel im Milieu der Wracktaucher in GEFÄHRLICHE CÔTE BLEUE. In TÖDLICHE CAMARGUE erfahren wir, dass noch immer Stierkämpfe in der Provence ausgetragen werden. Wie kommen Sie an Ihre Themen, wie wählen Sie aus?
Eigentlich muss ich nur vor die Haustür gehen und Augen und Ohren aufsperren – die Themen kommen von allein, und sie kommen so zahlreich, dass ich niemals alle zu einem Krimi machen kann. Ich fühle mich da wie ein Kind im Spielzeugladen, einfach herrlich! Grundsätzlich habe ich hier auch ein, zwei Quellen bei Gerichten und bei Gendarmerie oder Police, sodass ich mir Insider-Infos holen kann. Wenn ich dann etwas unbedingt machen will, dann recherchiere ich dazu so, wie ich das auch als Reporter tun würde: befrage Leute, sehe mir die entsprechenden Orte gründlich an, lese. Dieser Teil der Arbeit dauert viel länger als das eigentliche Schreiben. Für die TÖDLICHE CAMARGUE etwa habe ich mir die Stierkämpfe angesehen, die Weiden der Tiere in der Camargue, bin in die ganze Szene eingestiegen. An der Côte Bleue kenne ich, zu Wasser und in Wanderschuhen, so ziemlich jede Calanque zu jeder Jahreszeit, und ich habe mich dort auch wochenlang einquartiert, die Küste liegt ja einige Kilometer südlich von der Ölmühle, in der wir leben.
Der neueste Band, DUNKLES ARLES, spielt nun zum ersten Mal in einer Stadt. Und er ist auch ein wenig anders gelagert als die vorherigen Romane: Roger Blanc steht unter enormem Zeitdruck, ihm bleiben bloß zwei Tage Zeit, um den Fall zu lösen. Und man trachtet ihm und seiner Geliebten Aveline nach dem Leben. Was war der Anlass, hier mal ein bisschen anders zu erzählen – generell Lust auf Neues oder hat das Thema das gewissermaßen auch verlangt?
Alles zugleich: Ich glaube, wenn man eine Serie macht, muss man ab und zu das Tempo variieren und das Setting sowieso. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, die Erzählung einmal wirklich wie einen Countdown, einen mörderischen Wettlauf gegen die Uhr anzulegen. Ein Hauch von Thriller im Provence-Krimi – zumal ja auch die Verschwörung, die Blanc und Aveline aufdecken, und der düstere November, in dem sie das tun, nach alles anderem als einem geruhsamen Tonfall verlangen. Zugleich erzwingt auch der Ort selbst Tempo, denke ich: Arles ist zwei Jahrtausende alt und eine Schatzkiste unglaublich vieler, unglaublich schöner und mysteriöser Monumente aus Antike und Mittelalter. Aber, hey, die Stadt ist auch winzig: Wer sich nicht an den Sehenswürdigkeiten aufhält, hätte die Altstadt locker in einer halben Stunde zu Fuß durchquert. An einem solchen Ort, der gedrängt und begrenzt zugleich ist, darf sich die Handlung nicht über Wochen hinziehen, sonst fragt sich der Leser (zu Recht): „Was macht dieser Roger Blanc bloß die ganze Zeit?“
So „idyllisch“ die Provence auch sein mag, eine gewisse politische, gesellschaftliche Anspannung macht sich auch in Ihren Romanen bemerkbar. Das Erstarken des Front National, die Bedrohung durch islamistischen Terror … Hat sich das Leben auch in der Provinz in Frankreich über die letzten Jahre verändert?
Selbstverständlich, wenn zum Beispiel auch auf dem allerwinzigsten Weihnachtsmarkt im hinterletzten Dorf Betonsperren über die Straßen gelegt werden (müssen), damit kein Irrer auf die Idee kommt, zwischen die Menschen zu fahren, dann hat sich schon was verändert. In Deutschland und anderswo hat es leider Anschläge gegeben, aber wohl nirgendwo in Europa so viele und so regelmäßig wie in Frankreich. Hier gibt es auch schon lange eine rechtsextreme Partei, die zwei-, dreimal so stark ist wie ihr Gegenpart in Deutschland. Und hier tut sich seit einem Jahr auch überraschend viel, siehe oben: Überall ändert sich was, vom Präsidentenpalast bis zur Grundschule unserer Jüngsten. Vielleicht wird das von der anderen Seite des Rheins aus nicht immer so deutlich gesehen, aber: In Frankreich vollzieht sich beinahe eine Revolution (ohne Guillotine, aber durchaus mit Wut), und es haben sich hier in den vergangenen zwölf Monaten mehr Dinge geändert, als in den letzten zwanzig Jahren davor. Mit welchem Resultat? Abwarten und Rosé trinken ...
Wie wird es mit Roger Blanc weitergehen? Können Sie schon einen kleinen Ausblick auf die nächsten Bände geben?
Roger Blanc wird sich im nächsten Band auf sein erstes provenzalisches Weihnachtsfest freuen, mit Krippe und Santons und allem Drum und Dran. Aber dann wird er in die Alpilles gerufen, wo er in einem abgelegenen Tal voller rätselhafter Höhlen eine sehr alte Leiche findet und in einer mittelalterlichen Burg nach einem verschwundenen sehr jungen Mädchen suchen muss. Wie geht's aus? Weiß ich noch nicht genau, ich schreibe noch ...